Full text: Prinz Max von Baden. Erinnerungen und Dokumente.

probe im Herbst. In jedem anderen Lande würde heute das Parla— 
ment darauf bestehen, zusammenberufen zu werden. Sie aber warten 
auf eine weitere Zermürbung Deutschlands und glauben, daß der 
große Katzenjammer, der am Schluß der militärischen Kampagne 
zu erwarten ist, wenn kein Friede kommt, der psychologische Augen- 
blick für die Durchsetzung ihrer Machtansprüche sein wird. So wohl- 
tuend es auch ist, daß der Reichstag sich gegenwärtig selbst ausschaltet, 
vom Standpunkt des Darlamentarismus ist es ein moralischer Selbst- 
mord, daß er in dieser ernsten Stunde auf die Rolle des Wächters 
verzichtet, zu der er sich berechtigt glaubte, aber natürlich keineswegs 
befähigt ist. 
2. Aber auch die gegenwärtige Reichsleitung kann in dieser Stunde die 
Verbesserung unserer Weltstellung nicht berbeiführen. Sie hat in den 
entscheidenden Augenblicken des Krieges geschwiegen, als ihre Worte 
Taten gewesen wären. 
3. In diesem Augenblick des Interregnums hat die Krone noch einmal 
Gelegenheit, zu handeln, ohne Druck von unten. Sie kann aus freiem 
Entschluß eine Regierung berufen, welche die Reichstagsmajorität 
lahmlegt, ihr die hauptsächliche Waffe im voraus aus der Hand 
schlägt, indem sie selbst als der führende Faktor auftritt, den das 
deutsche Volk in der Stunde der Not herbeisehnt. 
Was muß der Kanzler einer solchen Regierung tun? 
1. Er und sein Ministerium dürfen kein Wort von Frieden reden, son- 
dern müssen alle Hilfsquellen der Nation zur Abwehr der tödlichen 
Gefahr aufrufen. Sie müssen keinen Zweifel daran lassen, daß sie 
Nachgiebigkeit gegen den feindlichen Abermut ablehnen und ent- 
schlossen sind, gegen ihn den Krieg länger fortzusetzen. Ohne daß sie 
es ausdrücklich sagen, müßten ihre ganzen Worte klingen wie eine Ab- 
sage an diejenigen Elemente in Deutschland, die durch herausfordernde 
Kriegsziele den feindlichen Willen zum Durchhalten gestärkt haben, 
ebenso wie an diejenigen Elemente in Deutschland, die durch würde- 
lose Friedensbeflissenheit zur Festigung der feindlichen Heimatfronten 
beigetragen haben. Sie müßten die Verlogenbeit der Feinde an den 
Dranger stellen. 
Das deutsche Volk konnte es allenfalls gelassen ertragen, daß die 
halbe Welt einen moralischen Bannfluch gegen seinen guten Namen 
schleuderte, solange wir in der Lage waren, den Feinden ihre Unver- 
schämtheit mit blutigen Niederlagen heimzuzahlen. Heute aber, wo 
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