Was nuützen uns heute noch Besatzungen und Expeditionen in Rußland? Schwer-
lich ist in diesem Augenblick mehr als die Hälfte unserer Truppen an der Westfront.
Einer erneuten Front werden andere Bedingungen geboten als einer ermüdeten.
Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unter.
werfung.“
Das war der Herzensschrei eines großen Patrioten. Er traf mich hart.
Seit dem 5. harte ich versucht, mich auf den Boden der Tatsachen zu stellen,
nach vorn zu sehen und nicht zurück auf den Kampf, den ich gegen das
Waffenstillstandsangebot geführt und verloren hatte. Nun quälte und
fragte ich mich wieder aufs neue: war auch wirklich das HLetzte geschehen,
um den „übereilten Schritt“ zu verhindern.
Erst Jahre später habe ich von Freunden erfahren, daß Rathenau am
2. Oktober wie ein Kind geweint hat und seinen erfindungsreichen Geist
zermarterte, ob er nichts tun könnte, um das Angebot aufzuhalten. Wäre
er doch an jenem Tage zu mir gekommen! Ich hätte diesen Bundesgenossen
brauchen können.
Rathenaus Artikel warf eine große Erregung in die Offentlichkeit —
die Menschen fuhren zusammen bei den mißtrauenden Worten, die gegen
OLudendorff und gegen Wilson gerichtet waren.
Wir besprachen die „levée en masse“ sofort im Kabinett. Der Grund-
gedanke war sicher richtig: Freiwilligkeit wird in diesem Augenblicke mehr
vollbringen als Zwang. Noch können erneuernde Kräfte der Front zu-
geführt werden. Aber eine Massenerhebung wie zu Carnots Zeit ist nicht
durchführbar. Sie würde einen heillosen Wirrwarr in der Kriegsorgani-
sation anrichten. Einzig der Kriegsminister kann die sinnvolle Kräfte-
verteilung vornehmen und muß sie fest in der Hand behalten. Ich er-
wartete viel von General Scheüch, der vom Kaiser zum Kriegsminister
ausersehen war. Er hartte als Chef des Kriegsamts einen tiefen Einblick
in unser Wirtschaftsleben getan und war in nahe Berührung mit Arbeit.
gebern und Arbeitnehmern getreten.
Am gleichen Tage wurde mir ein zusammenfassender Bericht über die
Stimmung in den alliierten Ländern erstattet. Danach schien es, daß
Rathenaus Worte: „Warum wird man Wilsons Forderungen ausdeutend
übersteigern? Weil man unseren Willen für gebrochen hält“ — eine furcht-
bare Bestätigung erhalten sollten.
Die Dressekommentare vor dem Angebot machen deutlich, wie die
Wendung in unserer inneren und äußeren Politik auf die Feinde gewirkt
hätte ohne die gleichzeitige militärische Bankrotterklärung. Allenthalben
ist die Spannung groß: Was wird der neue Kanzler sagen, wie weit wird
das Entgegenkommen gehen, das Deutschland zeigt?
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