Stresemann forderte (10. Oktober) im Auftrag der nationalliberalen
Fraktion, daß, „ehe in der Schicksalsfrage, von der die Zukunft des Deutschen
Reiches und deutschen Volkes abhängt, eine Entscheidung getroffen würde,
die mündlichen und schriftlichen Gutachten der Heerführer und ihrer General-
stabchefs über die gegenwärtige militärische Lage beigeholt werden müßten“,
und weder er noch seine Partei konnten „Beruhigung“ finden, als ich sagen
ließ, Ludendorff hätte sich vor seiner Abreise aus dem Hauptquartier der
#bereinstimmung mit Kuhl, Hoßberg und Schulenburg vergewissert.
Für mich war das Gutachten des General Ludendorffs schlüssig. Ra-
thenau, Graf Westarp und Stresemann rechneten immer noch damit, daß
wir die Schlacht in Feindesland zum Stehen bringen konnten. Das
aber war ein grundlegender Irrtum. Der General Ludendorff ließ dar-
über keinen Zweifel, daß wir an die Landesgrenzen zurück mußten, entweder
vom Feinde getrieben oder nach Vereinbarung räumend.
#berdies war die Maasstellung gar nicht ausgebaut, wie ich zu meinem
Schrecken erfahren hatte. Also die tödliche Bedrohung für das Industrie-
gebiet kam früher oder später doch, die Kampfbedingungen an der Landes-
grenze aber waren günstigere, wenn wir uns vom Feinde lösen konnten
und eine Atempause erhielten. Forderungen, die bezweckten, uns die Wieder-
aufnahme der Feindseligkeiten unmöglich zu machen, würden wir ablehnen,
darüber herrschte am 9. und 10. Oktober Einmütigkeit zwischen Reichs-
leitung und Heeresleitung.
Die über die „ganze Zukunft Deutschlands bestimmende Frage“ war
beute noch nicht wieder gestellt: die „Schicksalsfrage“ hatte am 29. Sep-
tember vor uns gestanden, sie würde erst wieder vor uns stehen, wenn Be-
dingungen kamen, bestimmt, uns zu entwaffnen und zu entehren.
Ich teilte also Ludendorffs Meinung: lieber räumen als abbrechen. Man
suchte Trost in einer Erwägung, die jenseits der rein militärisch-technischen
Gedankengänge lag: die moralischen Bedingungen des letzten Kampfes
wären für die Alliierten verschlechtert und für uns verbessert, wenn es sich
für sie darum handeln würde, nach Befreiung Belgiens und Nordfrank.
reichs den Krieg nach Deutschland zu tragen, und für uns, die Heimat zu
schützen. Frankreichs in den letzten vier Kriegsjahren bewiesene Fähigkeit
des Leidens und Widerstehens war beinahe über Menschenkraft gegangen
und nur dadurch zu erklären, daß die Franzosen „Ia belle patrie“ gegen
den vordringenden Feind verteidigten. Der General Ludendorff hatte ganz
recht, wenn er bei einer späteren Gelegenheit forderte, der Soldat in Belgien
solle wissen, er verteidige deutsche Erde. Jetzt aber galt es, die primitiven
1 Siehe unten S. 427.
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