Völker“ hatte den Drang nach Selbständigkeit auch im Reichsland erweckt
und bot nun die einzige Hoffnung, eine Annexion durch Frankreich zu
verhindern. Der neu ernannte Statthalter Schwander, ein treuer Elsässer
und treuer Deutscher, gab sein wohlerwogenes Gutachten dahin ab, daß
sich beim Plebiszit die meisten Stimmen für einen selbständigen neutralen
Staat erklären würden, aus einer allgemeinen Sehnsucht heraus, nicht mehr
der Zankapfel der beiden Nationen zu sein. Er riet uns, die Neutralitäts-
bestrebungen zu fördern: „Anter den Anderungen, die zu befürchten sind,
stellt ihre Befriedigung das weitaus kleinere Übel dar, sowohl im Sinne
der Ehre, wie auch der wirtschaftlichen Interessen des Reiches, wie auch
ganz besonders im Sinne der Erhaltung der völkischen Eigenart.“!1
Ich hatte seit dem ersten Tage des Angebots damit gerechnet, daß
Elsaß-Lothringen für das Reich verloren war.* Morgen würden die elsaß-
lothringischen Abgeordneten es offen sagen — das war das Furchtbare.
Die Dolen wollten ihren Anspruch auf Dosen, Danzig und
Oberschlesien öffentlich anmelden.
In diesen Tagen wurde die aktivistische Regierung in Warschau ge-
stürzt, schon die zweite nach meinem Amtsantritt. Der erbitterte Deutschen-
hasser Glombinsky wurde Minister des Außern, der in Deutschland
noch gefangen gehaltene General Pilsudsky Kriegsminister; die Deutsch-
Polen Korfanty und Seyda wurden zu kommissarischen Ministern für
die von Deutschland zu erwerbenden Gebiete ernannt.
Es hat keinen Zweck, in diesem Zusammenhang von den Fehlern der
deutschen Polenpolitik zu sprechen. Selbst wenn wir das Recht der Polnisch
sprechenden Deutschen auf ein eigenes kulturelles Leben immer geachtet
und das unselige Enteignungsgeseth nie eingebracht hätten, selbst wenn
bei der Verwaltung des besetzten Polen bureaukratische Schikanen ver-
mieden worden wären, so würde unsere Unterwerfung unter die dreizehnte
Wilsonsche Bedingung“ die Schleusen des polnischen Nationalismus ge-
öffnet haben; Gefühle der Loyalität und Dankbarkeit wären bedeutungs-
los geworden.
Um die polnische Begehrlichkeit zu zügeln, hatten wir nur ein Mittel
in der Hand: die Zurückziehung unserer Truppen und Eisenbahnen aus
den besetzten Gebieten, d. h. die Auslieferung des Landes an den Bol-
schewismus und den Hunger. Der preußische Minister Drews und sämt-
liche Hräsidenten und Oberpräsidenten der bedrohten Ostmark wollten
1 Bericht Schwanders vom 26. Oktober 1918, mir dem Inhalt nach schon früher
mitgeteilt.
2à Siehe oben S. 339 und 350.
2 Siehe oben S. 356 Anm.
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