Full text: Prinz Max von Baden. Erinnerungen und Dokumente.

Selbstverwaltung war in mehr als einer Hinsicht mustergültig. Das 
Reichstagswahlrecht war lange Zeit das freieste Wahlrecht der Welt, 
und der Reichstag, der so frei gewählt war, hatte stets das starke po- 
litische Machtmittel der Budgetbewilligung. Aber das deutsche Volk 
machte in den entscheidenden Hunkten von seiner Macht keinen Gebrauch. 
„Wem eine Meistergeige geschenkt wird, der ist deshalb noch kein 
Meister des Geigenspiels; er muß gewillt sein, seine Fähigkeiten daran 
zu üben. Das deutsche Volk hatte sein Instrument nicht mit voller Kraft 
zu spielen unternommen, weil es die tüchtigen eingesetzten Gewalten gern 
gewähren ließ. Seine Hauptkraft wirkte sich aus in großen Einzel- 
leistungen außerhalb der Holitik. Nicht die Willkür der eingesetzten Ge- 
walten, sondern der Mangel an politischem Machtwillen im Volk erhielt 
Deutschland so lange als Obrigkeitsstaat. Seit dem Juli 1917 reifte der 
Entschluß zur politischen Berantwortung — jetzt, Ende September, ist 
er zum Durchbruch gekommen, und dadurch ist alles neu geworden. And, 
meine Herren, darin liegt die Gewähr für den Bestand und den Ausbau 
des neuen Systems. Es kam durch eine entscheidende Wendung in der Cha- 
rakterentwicklung des deutschen Volks, die nach allen Leistungen dieses 
Krieges, allen Taten und Opfern unausbleiblich geworden war. Darin 
liegt eine bessere reale Garantie als in irgendwelchen Gesetzesparagraphen; 
darin sehe ich die Wurzeln der Kraft der neuen Regierung. Hieraus er- 
gibt sich für mich eine sichere Marschroute für alle unsere Maßnahmen: 
wir dürfen nicht um des Auslands willen, auch nicht, um der Not des 
Augenblicks Herr zu werden, zu Regierungsformen greifen, hinter denen 
nicht unsere innere Aberzeugung steht und die nicht ein Ausdruck unserer 
Eigenart und Geschichte sind. 
„Sonst handelten wir unaufrichtig und nähmen dadurch dem neuen 
System, das jetzt seine erste Probe besteht, den Stempel der Anwider- 
ruflichkeit, den wir nicht entbehren können. 
„Der gewaltige Ruf, den Fichte in schwerer Zeit an die Deutschen 
richtete, ergeht auch an uns: Erhaltet euch als Volk für die Aufgaben 
in der Welt, die nur ihr lösen könnt, wie jedes Volk eine Aufgabe hat, 
die ihm vor anderen gestellt ist. Es liegen noch Schätze in der Tiefe 
unseres Volkes, die nur die neue Freiheit heben kann. Die Stunden 
im Leben der deutschen Nation, die sie niederzuschlagen schienen, sind noch 
immer die Geburtsstunden einer neuen geistigen Kraft gewesen. 
„Aber um unsere Eigenart ruhig zu entwickeln, müssen wir unser Haus- 
recht wahren können. An unseren Toren steht der Feind. Unser erster und 
letzter Gedanke gehört den Tapferen, die sie gegen die Abermacht ver- 
teidigen und die wir gegen ungerechte Anklagen verteidigen mücssen. 
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