Full text: Prinz Max von Baden. Erinnerungen und Dokumente.

Ungarn die ihm unentbehrlichen Kohlenlieferungen zu sperren. Das Aus- 
wärtige Amt hatte bereits in Budapest durch entsprechende Drohungen 
sichtbaren Eindruck gemacht; aber die ungarischen Bahnen waren in einem 
furchtbaren Zustand, und das Land war am Nande des Bolschewismus. 
Nach der Ermordung Tiszas erwartete man neue Attentate, wie der nach 
Berlin geflohene Justizminister uns mitteilte. Wir durften die Armee 
Mackensen nicht mehr in Rechnung stellen. 
Aus den übrigen Ostgebieten schien die Herausziehung der Truppen tech- 
nisch möglich zu sein. Allerdings aus Polen erst, nachdem wir die Akraine 
aufgegeben hätten, da wir die polnischen Bahnen zum Dücktransport 
unserer Truppen brauchten und die Bahnen nicht schützen konnten,! ohne 
das Land besetzt zu halten. 
Waldow war jeden Augenblick bereit, zugunsten der letzten Verteidigung 
auf die AUkraine zu verzichten, obgleich er selbst heute nachmittag (3. No- 
vember) in der Kabinettssitzung gesagt hatte: „Die Ernährung hängt an 
einem Seidenfaden.“ Die Oberste Heeresleitung aber wollte nicht räumen. 
In den Antworten Gröners kam in einer beinabe feierlichen Wiederholung 
immer wieder die Warnung: Wir dürfen das Land nicht dem Bolsche- 
wismus preisgeben. 
VWar Gröner objektiv? Er hatte wie General Hoffmann im Osten auf 
Vorposten gestanden, schützend, ordnend im Vollgefühl unserer Macht 
und der Verantwortung, die sie uns auferlegte. Diesen östlichen Soldaten 
war der ethische Imperialismus in Fleisch und Blut übergegangen, zu 
einer Zeit, als die Gehirne der Politiker sich noch sperrten. Sie fühlten 
nicht nur das Wort der Nation, sondern die eigene Ehre verpfändet: wir 
dürfen nicht unsere Hand von den Balten, Finnen, #krainern zurückziehen, 
die wir befreit haben und die uns vertrauen. Da lag der Verdacht nahe, 
daß Gröner nicht ganz ohne Voreingenommenheit die Frage beantwortete: 
was können wir noch aus dem Osten herausholen? 
1 Ein Bericht des Generalgouverneurs v. Beseler vom 2. November 1918 aus 
Warschau gibt der Meinung Ausdruck, daß die an sich ratsame völlige Zurückziehung 
der deutschen Besatzungstruppen nur möglich wäre, wenn zugleich Litauen, Weiß- 
rußland und die Ukraine geräumt werden könnten, deren Verbindung mit der 
Heimat sie aufrechterhielten. Allerdings würde es baldigst einer Verstärkung der 
Besatzung bedürfen, die nur aus im ganzen Lande verstreuten 35 schwachen Land- 
sturmbataillonen mit ganz geringer Kavallerie und Artillerie bestünde. Die Ver- 
antwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung in dem „unruhigen und unter- 
wühlten Lande“ ließe sich sonst nicht übernehmen. Nach Zurückziehung unserer 
Truppen würde voraussichtlich ein Chaos entstehen, das auch für unsere angrenzen- 
den Provinzen bedenklich werden könnte. 
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