Im Kabinett war eine starke Strömung gegen die Auffassung der Obersten
Heeresleitung. Besonders Erzberger und Scheidemann drängten auf die
Zurückziehung der Truppen. Scheidemann wollte durch unsere Räumung
geradezu den Aufruhr in Polen herbeiführen, um die Stimmung der preu-
ßischen Polen zu unseren Gunsten zu wenden. Auch Drews hatte nach seiner
ARückkehr erneut den Kriegsminister bestürmt, er möchte die Oberste Heeres-
leitung umstimmen. Der Minister des Innern war in schwerster Sorge um
das Herzstück der preußischen Lande, wie er Westpreußen und Oberschlesien
nannte. Was gingen ihn die Akrainer und Kongreßpolen an, wenn er nur
den preußischen Besitzstand rettete, und „seine“ Polen gefügiger wurden.
Ich stand sofort auf Gröners Seite. Die am 3. November abends vor-
liegenden Nachrichten ließen keinen Zweifel darüber: der Bolschewismus
bolte zu einem neuen großen Schlage aus. Ganz Europa fühlte sich be-
droht. Aus Holland lagen Meldungen über militärische Anruhen vor: In
Harskamp bei Arnhem, in Amersfoort und Vlissingen war es zu tätlichen
Angriffen gegen die Offiziere gekommen. Lucius meldete aus Stockholm,
daß der russische Gesandte Morowski von dem schwedischen Minister des
Außern soeben verwarnt worden sei. Aberall in ÖOsterreich rangen die
Nationalstaaten mit der bolschewistischen Gefahr. In England rieten ernst-
hafte Stimmen zur Mäßigung gegenüber Deutschland mit der Begrün-
dung, man dürfe im eigenen Interesse uns nicht dem Bolschewismus in die
Arme treiben. So auch das von Lloyd George inspirierte Blatt „Daily
Chronicle“. Die Engländer waren auch diesmal erschreckend gut über
unsere inneren Verhältnisse informiert.
In der AMeichskanzlei waren alarmierende Meldungen von der Marine
eingetroffen: Gehorsamsverweigerung auf mehreren Schiffen vor Wil.
helmshaven. Noch waren die Mitteilungen nicht durchsichtig: war die
Mannszucht wiederhergestellt worden? Lagen bolschewistische Amtriebe
zugrunde oder nur lokale Unzufriedenheit? Ritter v. Mann, so meldete mir
Simon,s, sei mit einem sehr ernsten Gesicht in der Kabinettssitzung erschienen
und habe folgendermaßen berichtet: Die Mannschaften mehrerer großer
Schiffe hätten sich geweigert, dem Befehl zum Auslaufen Folge zu leisten
(9. und 30. Oktober). Sie hätten offen gemeutert und sich verbarrikadiert,
so daß Admiral v. Hipper sie von Torpedobooten umzingeln, ja die Tor-
pedos auf sie richten ließ. Alsdann seien die Gehorsamsverweigerer ver-
haftet worden. Die Meuterer gäben als Beweggrund an: die Offiziere
und das Flottenkommando wollten den Frieden nicht, sie hätten die Flotte
in einer großen Schlacht opfern wollen. Staatssekretär v. Mann erbat
einen Aufruf der Regierung, der eine Ermahnung zur Disziplin, aber kein
Amnestieversprechen enthalten sollte.
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