Tag für Tag beschwor der „Vorwärts“ die Arbeiter, sich nicht zu Hut-
schen verleiten zu lassen. Er sprach von AUnruhen wie von einer nahenden
Wirklichkeit. Die Sozialdemokratie hatte jetzt ihre ganze Vertrauens-
seligkeit gegenüber der russischen Botschaft aufgegeben und unterstützte die
Kontrollmaßnahmen der Regierung.
Wer wollte unter diesen Amständen die Räumung des Ostens verant-
worten? Jetzt das befreite Land preisgeben, hieße den Siegeszug des
Bolschewismus in Bewegung setzen und an die Grenzen des eigenen Lan-
des herantragen.
So blieb also nichts anderes übrig, als daß unsere schwerbedrängte West.
armee Truppen abgab, um die neue Südfront zu erstellen. Der Feldmar-
schall hatte das Generalkommando des 2. bayerischen Korps und die
4. bayerische Division bereits auf die Bahn gesetzt und eine preußische
Division zum Abtransport bereitgestellt. Er hoffte noch das Alpenkorps
aus Südungarn herauszubekommen. Den bayerischen Ersatz gab er zur
unmittelbaren Verwendung für die Verteidigung Bayerns frei. Die
Ententetruppen, so besagte eine beim Kriegsminister in München vor-
liegende Meldung, seien bereits in Sterzing und würden am 15. November
in Innsbruck erwartet.
In Bayern, besonders an der Grenze, herrschte Bestürzung. Der Kriegs-
minister v. Hellingrath forderte Einmarsch in Tirol und gegebenenfalls
Sprengung des Brennertunnels. Im Kabinett hatten sich völkerrechtliche
Bedenken erhoben. Simons konnte ihre Sinnlosigkeit mühelos nachweisen:
Der Waffenstillstandsvertrag zwischen Osterreich und der Entente gab
uns keine Rechte und keine HPflichten. Deutschland brauchte keine Rück.
sicht auf den untreuen Bundesgenossen zu nehmen, zumal wir sicher sein
konnten, daß die österreichische Nationalregierung im Herzen jede Maß-
nahme billigen würde, die deutsches Land schüczte. Der Staatssekretär
Adler hatte sogar dem Grafen Wedel vertraulich mitgeteilt, daß er nichts
gegen die Sprengung des Brennertunnels einzuwenden hätte, voraus-
gesetzt, daß er keine offizielle Kenntnis erhielte.! Unsere Grenze war tatsäch-
lich strategisch auf bayerischem Boden nur schwer zu verteidigen. Sachlich
waren also die Bayern durchaus im Necht, aber binter ihrer Forderung
drängte eine häßliche Volksstimmung, auf die wir in dunklen Andeutungen
immer wieder warnend bingewiesen wurden. Der Kriegsminister Scheüch
hatte gestern, am 2. November, berichtet: nach Behauptung bayerischer
Militärs ließen sich die bayerischen Truppen nicht mehr im Westen halten.
1 Am folgenden Tage (4. November) hat dann auch das Kabinett die Einwilli-
gung zum Einmarsch gegeben.
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