Darauf habe ich zu sagen: es handelt sich darum, nicht nur die materiellen
Machtmittel, sondern den Willen der feindlichen Völker abzuschätzen. Wenn
es gegolten hätte, Elsaß-Lothringen zu erobern, wären die alliierten Macht.
haber in der Lage gewesen, ihren Völkern noch einen jahrelangen Krieg
zuzumuten, da der endliche Sieg nicht mehr zweifelhaft war.
Am 11. November aber war eine andere Situation denkbar: Die
Wilson-Bedingungen wären angenommen; die Räumung Belgiens und
Nordfrankreichs zugestanden, ja sogar die Räumung Elsaß-Lothringens —
gegen die Forderung aber, uns zu entwaffnen, stünde das Nein einer zum
Außersten entschlossenen Nation.
Dann ist es meine Aberzeugung, daß sich unser Wille zum Verzweif-
lungskampfe nur wenige Wochen hätte zu bewähren brauchen, um den
Feinden das Ziel unserer Vernichtung zu verleiden; aus ihren Völkern
wäre ein übermächtiger Schrei aufgestiegen:
„Wir müssen noch Hunderttausende opfern, bis wir über den Rhein
sind. Der Preis ist zu hoch, nur um Fochs Waffenstillstandsbedingungen
zu erzwingen.“ — Von ihren Heimatfronten wäre die Stimmung auf die
alliierten Heere übergesprungen, die mit der schlimmsten Jahreszeit und
ungeheuren Transportschwierigkeiten zu kämpfen gehabt hätten. And
schließlich wäre der notwendige Offensiowille erloschen.
Neue Perhandlungen wären dann wohl eingeleitet worden. Die
Waffenstillstandsbedingungen, die wir dann hätten annehmen mücssen,
wären sehr hart gewesen; aber sie hätten Deutschland, das ist mein
Glaube, dem Wersailler Diktat nicht wehrlos ausgeliefert. —
Während der Nacht vom 4. zum 5. November trafen neue Meldungen
aus Kiel ein. Sie waren in dem einen Punkt deutlich genug: Kiel war in
den Händen der Meuterer. Am 4. vormittags war die Aufruhrbewegung
von Kaserne zu Kaserne übergesprungen — die Arbeiter machten mit den
Matrosen gemeinsame Sache.
Im ersten Augenblick schien eine Gegenaktion des Gouverneurs von
Kiel, des Admirals Souchon,! Erfolg zu haben: es gelang — so hatte er
berichtet —, einen marschierenden meuternden Trupp zum Teil zu ent-
waffnen; der Rest warf die Waffen weg. Wenige Stunden später aber brach
an allen Ecken die Revolte aus und machte „den Eindruck planmäßiger,
langer Vorbereitung“. „Die Matrosen bemächtigten sich der Waffen
einschließlich von vier Maschinengewehren und gingen gegen die verstärkte
Arresthauswache vor. Die Wache weigerte sich größtenkeils zu schießen."“
Souchon schägzte die vordringende, gut bewaffnete Menge auf 2000 Mann,
1 Chef der Mittelmeer-Division, dem das Entkommen der „Goeben“ und der
„Breslau“ nach Konstantinopel zu danken ist.
Prinz Max von Baden 37 577