Ich war noch immer ohne Entscheid des Kaisers, hatte daher auch
keine Autorisation, das zu tun, was der Augenblick erforderte. Eine schwere
Lähmung für meine Entschlüsse!
Ich durchlebe diese Stunden immer wieder aufs neue und sage mir:
wie anders wäre die Freiheit meines Handelns gewesen, wenn ich auf
das „Zu spät“ der Sozialdemokraten hätte antworten können: Der Kaiser
hat einen Stellvertreter ernannt. 1 Das war die einzige Lösung, die geeignet
war, rasch eine vollendete Tatsache zu schaffen.
Die Zusammensetzung der neuen Regierung wurde erörtert. Ich gab
den Staatssekretären zu bedenken, ob sie nicht ihren Entschluß zum
Rücktritt revidieren wollten; denn ich war von der Notwendigkeit durch-
drungen, unter allen Umständen den Zusammenbruch der Negierungs-
maschine zu verhindern. Es galt an Legalität und Kontinuität zu retten,
was noch zu retten war. Der Kriegsminister gab ein leuchtendes Beispiel.
Als Scheidemann sagte, die Posten des Kriegsministers und des Ober-
befeblshabers in den Marken müßten mit Parteigenossen besetzt werden,
erklärte der General Scheüch: Er bliebe auf seinem Posten. Das Heer
stehe am Feind, seine Versorgung müsse geregelt bleiben. Die Waffenstill.
standsverhandlungen seien im Gang, er würde ausharren unbeschadet seiner
persönlichen Aberzeugung, es sei denn, daß er weggefegt würde. Nach
Erfüllung seiner Aufgabe würde er wieder frei in seinen Entschließungen
werden.
Scheidemann ließ seine Bedenken fallen, bezeichnete es aber als nötig,
daß zur Garantie nach außen ein Sozialdemokrat dem Kriegsminister
beigegeben werde. Der General Scheüch erklärte sich einverstanden.
Scheidemann benannte den Abgeordneten Göhre.
Oberstleutnant van den Bergh blieb als Gerbindungsoffizier im
Adjutantenzimmer der Reichskanzlei. Dort wurde er, als sein Chef
schon fort war, vom Oberkommando erneut angerufen: ob es unter den
1 Während der Drucklegung kommt mir ein Entwurf wieder vor Augen, den Unter-
staatssekretär Lewald vom Reichsamt des Innern am 31. Oktober 1918 für die An-
kündigung einer Stellvertretung aufgesetzt hatte: „Nachdem Ich zu der berzeugung
gelangt bin, daß Meine Person ein Hindernis für das deutsche Bolk zur Erlangung
eines Friedens bildet, der seinen staatlichen Bestand und seine Zukunft nach so uner-
hörten beldenhaften Opfern und Leiden sicherstellt, habe Ich Mich entschlossen, von der
Regierung zurückzutreten. Bis zur Regelung Meiner Nachfolge und einer etwaigen
Regentschaft habe Ich, da dieselben Hindernisse in der Person Meines ältesten
Sohnes, Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit des Kronprinzen des Deut.
schen Reiches und von Preußen vorliegen, Meinen zweiten Sohn, Seine Königliche
Hoheit den Prinzen Eitel Friedrich von Dreußen mit Meiner Stellvertretung in
der Führung der Regierungsgeschäfte beauftragt.“
630