der Neutralität konnte er nicht drohen, weil er seine Ehre und die Ehre
seines Volkes gebunden hatte, an jedem Kriege teilzunehmen, in den
Frankreich hineingezogen würde, gleichviel, ob es im Unrecht oder im
Recht war. Er war gebunden, weniger durch die Konversationen zwi-
schen den englischen und französischen Militärbehörden, als durch die
mit Frankreich vereinbarte Verteilung der Flotten. Die Küste Frank-
reichs war unverteidigt: „The French fleet is in the Mediterranian“,
sagt Grey sechsmal in der großen Rede vom 3. August 19141, mit der er
den Dazifismus der HLiberalen beschwören wollte. Mit dem Kriege aber
konnte er Deutschland nicht bedrohen, jedenfalls nicht deutlich und brutal
genug, um die deutsche Illusion über Englands Haltung gänzlich zu zer-
streuen, weil er vor seinem Parlament nun schon jahrelang die Fiktion
aufrechterhielt, England habe noch die volle Freiheit des Handelns.
An Greys Wunsch, den Krieg zu vermeiden, möchte ich auch heute, nach-
dem die neue englische Dokumentensammlung erschienen ist, nicht zweifeln;
aber dieser Wunsch wurde nicht zum festen und gradlinigen Willen. Hinter
Grey — daran kann nach den jüngsten Veröffentlichungen kein Zweifel
mehr sein— standen die permanent okficials, die wußten, was sie wollten.
Sie hinderten ihn fortgesetzt daran, irgend etwas in Petersburg zu sagen,
das verstimmen konnte. Englands Freundschaft mit Frankreich und Ruß-
land sollte um jeden Preis erhalten werden, auch um den Preis des Frie-
dens; und letzten Endes war es ihnen recht, wenn England die gute Ge-
legenheit ergriff, um sich des lästigen Flottenrivalen zu entledigen. Die
Entscheidung über Krieg und Frieden hätte in London fallen können und
sollen. Anter dem Einfluß seiner Berater hat Grey sie nach Daris und
Petersburg verlegt.
Wenn Grey sich in der Ehre gebunden fühlte nach den Abmachungen
und Konversationen der letzten Jahre, Frankreich und Rußland in jedem
Kriege gegen Deutschland und Osterreich zu unterstützen, so kann ich das
1 Als Grey seine Rede hielt, lag bereits das Anerbieten Bethmanns vor, die
französische Küste nicht anzugreifen.
2 Als am 31. Juli 1914 das englische Kabinett sich zu einer bindenden Verpflich-
tung gegen Frankreich noch nicht entschließt, schreibt der Unterstaatssekretär Sir
Eyre Crowe an Grey: „. Die Begründung, daß keine schriftliche Verpflichtung
bestehe, die uns an Frankreich bindet, ist streng genommen richtig ..Aber die Entente
ist abgeschlossen, verstärkt, erprobt und gefeiert worden in einer Weise, die den Glau-
ben rechtfertigt, daß ein moralisches Band geschmiedet wurde. Die ganze Politik
der Entente kann keinen Sinn haben, wenn sie nicht bedeutet, daß in einem gerechten
Streit England zu seinen Freunden steht. Diese ehrenhafte Erwartung ist erweckt
worden. Wir könmen sie nicht ableugnen, ohne unseren guten Namen ernster Kritik
auszusetzen.“ (British Documents 1926, Nr. 369. Bgl. auch Anhang Nr. II.)
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