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Senlen S. B30 die Ansicht vertreten worden, daß der Bundes-
rat bei Versassungsänderungen vollzählig sein müsse. Diese
Theorie fsindet in der Versassung aber keine Stütze und ist im
übrigen praktisch undurchführbar.
Versassung im Sinne des Art. 78 Abs. 1 ist nur die
Versassungsurkunde selbst, nicht aber andere Reichsgesetze, mögen
sie auch materiell Verfassungsrecht erhalten.)
Die Anderung kann entweder so vor sich gehen, daß, wie
es auch anfangs geschah, der Wortlaut der Verfassungsurkunde
oder des von ihr angezogenen Verfassungsrechts abgeändert
wird,) aber die qualifizierte Mehrheit ist auch bei materiell
verfassungswidrigen Gesetzen notwendig, d. h. Veränderungen,
die nicht den Text berühren, aber den verfassungsmäßigen Rechts-
zustand inhaltlich trotzdem ändern oder teilweise aufheben. Dieses
Verfahren wurde vielfach in neuerer Zeit geübt, um Schwierig=
keiten und Kontroversen aus dem Wege zu gehen, hat aber den
Nachteil, daß die einen eine Verfassungsänderung für vorliegend
crachten, die anderen nicht. Es gibt heute sogar eventuell be-
schlossene Verfassungsänderungen, d. h. es wird ein Gesetz
erlassen, mag eine Anderung darin enthalten sein oder nicht.
dritteln der vertretenen Stimmen erforderlich.“ Drucks. S. 41) genügte
zur Verfassungsänderung Zweidrittelmehrheit. Hiernach hatte Preußen bei
dem Verhältnis der preußischen Stimmen zur Gesamtzahl ein absolutes
Veto gegen Verfassungsänderungen. Dies wäre durch den Hinzutritt der
süddeutschen Staaten weggefallen, wenn nicht Art. 78, Abs. 1 die heutige
Fassung erhalten hätte. (Vgl. die Worte des Präsidenten des Bundes-
kanzleramtes im Reichstage am 7. und 8. Dez. 1870, Sten. Ber., S. 129
und 143.) In den Verträgen mit Baden, Hessen und Württemberg war
eine Dreiviertelmehrheit dazu vorgesehen. (VGl. 1870, S. 650 f.) Die
jetzige Fassung des Art. 78, Abs. 1 wurde im Bundesvertrage mit Bayern
festgestellt. (BGl. 1871, S. 9.) Es ist hier ein Kompromiß mit Bayern
geschlossen, welches ein Vetorecht gegenüber Verfassungsänderungen bean-
sprucht hatte. (Vgl. Abg. v. Hoverbeck im Reichstage am 8. Dez. 1870.)
64) Ebenso v. Rönne, Staatsr. II, S. 20 f.; Arndt, Staatsr., S. 186,
Komm., S. 366; Seyd l, Komm., S. 416; Hänel, Staatsr., S. 771;
Dambitsch, S. 683; v. Mohl, S. 143 f., 185; v. Jagemann, S. 227;
Laband, Staatsr. I, S. 284, Reichsstaatsr., S. 70; Wiese, S. 10 f.
65) Der Verfassungstext ist nur in neun Fällen abgeändert worden.
Sonst sind die angenommenen Verfassungsänderungen in der Verfassungs-
urkunde nicht zum Ausdruck gebracht worden. Ob diese Praxis der Ver-
fassung entspricht, ist strittig.