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diese nicht die alljährliche Berufung damit erreichen wollten,
sondern ihr Gewicht auf dem jährlichen Versammeltsein von
Bundesrat und Reichstag beruht. Die formelle Berufung ist
also nur Mittel zum Zweck, nicht Endzweck selbst.ꝰ)
b. Grundsätzlich ist das Berufungsrecht des Kaisers ein
freies, das nur von seiner eigenen freien Entschließung ab—
hängig ist. Hiervon gibt es jedoch einige Ausnahmen. Die
Berufung des Bundesrats muß nämlich erfolgen, einmal
mindestens alljährlich, 10) was schon aus Art. 69 Reichsverfass.
wegen des alljährtich durch Gesetz festzustellenden Reichshaus-
halts-Etats resultiert. Art. 13 Reichsverfass. fügt noch die
Bestimmung hinzu, daß zur Vorbereitung der Arbeiten 11) der
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9) Vgl. Seydel, Komm., S. 168; Dambitsch, S. 314.
10) Art. 13 Reichsverfass. — Der Termin steht im freien Ermessen
des Kaisers.
11) Diese Worte geben nur den Hauptverwendungsfall der separaten
Berufung, sie wollen aber nicht andere Fälle ausschließen. (Vgll. Meyer,
Lehrb., S. 433; Seydel, Jahrb. III, S. 293; Arndt, Komm., S. 138).
So kann der Bundesrat seine Zustimmung zu Gesetzen auch dann geben,
wenn der Reichstag nicht versammelt ist. Dies widerspricht nicht dem
Prinzip der Diskontinuität im Reichstage. Denn dieses gilt nur innerhalb
des Reichstags und hat auf die verfassungsmäßigen Rechte des Bundes-
rates keinen Einfluß. Hier ist aber der Gesetzentwurf vom Reichstage zur
Erledigung gebracht, sodaß dieser sich nicht mehr damit zu befassen hat und
das Prinzip der Diskontinuität keine Anwendung mehr finden kann. Dem-
nach steht fest, daß der Bundesrat mit seiner Zustimmung an keine Zeit-
grenze gebunden ist, also auch noch nach Schluß der Reichstagssession, ja
sogar nach Auflösung des Reichstags und nach Wahl eines neuen sein
Recht unverändert behält. (So Seydel, Komm., S. 115, 118 f.; Arndt,
Staatsr., S. 183; Laband, Staatsr. II, S. 35, Jur. Zeit. 1904, S. 324;
Dambitsch, S. 178; Proebst, S. 59.) Meyer, Lehrb., S. 586 und Rofin,
Polizeiverordnungsrecht in Preußen, S. 254 setzen als Endtermin für
Sanktion und Verkündigung den Beginn einer neuen Wahlperiode fest.
Rönne, Staatsr. II, S. 51 steht auf dem Standpunkt, daß, ebenso wie bei
der Frage, wie lange der Bundesrat an seine Zustimmung zu Gesetzent-
würfen gebunden sei, jede Reichstagssession gewohnheitsrechtlich eine ab-
geschlossene Periode bilde, sodaß die eine Session von der nächstfolgenden
getrennt wäre. v. Jagemann vertritt für die erste Frage die Ansicht
Rönnes, daß nämlich ein im Reichstage seitens des Bundesrates einge-
brachter Entwurf zu seiner Erledigung in der nächsten Session eines neuen
Bundesbeschlusses bedürfe. In der zweiten Frage, wie lange Reichstags-
beschlüsse, die noch nicht die Sanktion erhalten haben, wirksam bleiben,