Full text: Sachsen in großer Zeit. Band I. (1)

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Stallupönen, immer weiter durch das Gebiet, in dem nur 
3 Tage zuvor mit der russischen Nachhut die Verfolgungs- 
schlacht tobte. Deren Spuren auf Schritt und Tritt. 
Der Winter zog schon sein alles bedeckendes Schneetuch 
über das grausige Bild. Er hatte schon den Schnee halb- 
meterhoch geschüttet und sein Gesell, der Wind, viel Schnee 
über die Gefallenen angetürmt. 
Ein Russe in lehmgrauer Uniform, mit Mätze in gleicher 
Farbe und schwarzer Blende, ohne Stiefel und Strümpfe, 
mit offenem Munde und blutüberlaufenem verzerrten Ge- 
sicht. Seine weißen Zähne leuchteten! Ein Kopfschuß hatte 
dem Leben ein Ende gesetzt und Mutter Natur breitete in 
wenigen Stunden das Leichentuch des Winters über ihn 
aus. Es war der Feind, der unsere Straße säumte, der 
Feind und Verwüster unseres Landes, dem wir nacheilten. 
In Stallupönen, das den gleichen Eindruck der Ver- 
wüstung darbot, wurde mit den Pferden der Bagage — 
diese bestand aus einer russischen Feldküche, Lebenomittel- 
wagen, Munitionswagen und einem Wagen mit Skier= und 
dergleichen Reserveteilen — in einer Scheune kampiert. 
Hier sollte übernachtet werden. Da jedoch infolge höchster 
Alarmbereitschaft der Mantel nicht heruntergenommen wer- 
den konnte, auch keine Decken vorhanden waren, so durch- 
fröstelte man Stunde 
auf Stunde und fachte 
das Leben durch Bewe- 
gung wieder und wle- 
der von neuem an. So 
bedeutete denn der Be- 
fehl früh gegen 7 Uhr 
„Abmarsch nach Pill- 
kallen“ eine Art Er- 
lösung. 
Dort bot sich unserer 
Truppe ein etwas fried- 
licheres Bild. Der von 
den Einwohnern verlas- 
sene Ort war weniger 
hart mitgenommen, und 
bot gute Quartiere. Leutnant Snay wies einem Teil 
unserer treu zusammenhaltenden 178er Quartier im 
Gemeindehause an. Hier sah's nun nicht gerade sehr 
wohnlich aus. Da muß die Mistgabel zunächst her, 
um unseren sauberen Feinden nachzuräumen. Das Ein- 
fachste — gleich die Fenster aufreißen, das schmutzige 
Stroh und Unrat hinausgefenstert. Da rief der, der die 
Mistgabel schwang: „Halt, hier muß etwas liegen!“ Vor- 
sichtiger wurde das darübergeschichtete Stroh weggeräumt. 
Die Augen weiteten sich, dann wurden sie finster, grim- 
migen Zorn verratend. Da lag auf dem Boden die Leiche 
eines Mädchens. Zwei Kinder daneben, die Mutter und 
der Vater, der Gemeindevorstand, auf die Dielen ange- 
nagelt. Sofort wurde Meldung beim Leutnant Snay ge- 
macht, der anordnete, diese „Kriegsopfer“ im Garten zu 
begraben. Mancherlei von der wilden russischen Herrschaft 
in dieser so reizvoll gelegenen Stadt erzählte die einzige 
angetroffene Lebende, eine 85jährige Greisin, die sich den 
Rest ihrer Lebensjahre durch Verstecken zu retten wußte. 
Kaum waren die Russen von dannen, so bereute sie wohl 
ihre Geschicklichkeit, denn mit ihren eigenen Händen schau- 
felte sie ihrem treuen Lebenögefährten, ihrem Manne, das 
Grab, dem die Russen den Kopf gespalten hatten. 
Ihrem Grimm konnten die Schneeschuhläufer nicht 
freien Lauf lassen. Die Verbindung war abgerissen. Nach 
2 Tagen ging es erst weiter nach Schirwindt. Von dort 
nach Eydtkuhnen an zerstörten Bahnhof vorbei, weiter 
nach Wirballen. Kaum über die Grenze, so stießen 
wir, was uns nach den so entvölkerten, toten und ver- 
wüsteten Strichen in Preußen besonders auffiel, auf die 
  
Sächsische Denkmünze auf den Tag von Ciaonne (26. Januar 1915) 
Einwohnerschaft, die uns freudig empfing und uns manches 
Angenehme durch ihre Hilfeleistungen bot. In Wolko- 
wischki endlich trafen wir mit den übrigen Kompagnien 
des Bataillons zusammen. Ein eindruckvolles Bild, was 
Wolkowischki uns in steter Erinnerung erhalten wird: 
An die 6000 Nussen, von dem Fang Suwalki-Kalwarija, 
kamen uns am Marktplatz entgegen. Alle Waffengattungen 
waren vertreten, Artillerie, Infanterie, Kosaken, in völlig 
ausgehungertem Zustande. Mancherlei wurde ihnen von 
den Zioilisten zugesteckt. 
Doch auch unser Schneeschuhtrupp hatte es hier ganz 
gut. Zum ersten Male nämlich russische Bürgerquartiere. 
So diente einigen 178ern, darunter Bassenge, eine echt 
russische Teestube als Aufenthaltsraum. Die zurückge- 
bliebene Bevölkerung bestand zumeist aus Juden, die sich 
den neuen Verhältnissen schnell angepaßt hatten. Im Nu 
waren 14 Tage der Ruhe verflogen, und nochmals ging's 
auf „Bretteln“ über Pilwischki nach Mariampol. Dort 
mußten wir diese abgeben, da tagsüber die wärmenden 
Sonnenstrahlen das andauernde Fahren unmöglich mach- 
ten. Nach der bitteren Kälte wurde Mutter Sonne aufs 
freudigste begrüßt, und zu Mittag zeigte sich so mancher 
schon in „Hemdsärmeln“. Nur die eiskalten Nächte er- 
innerten daran, daß es 
noch Februar war. In 
Mariampol wurde die 
Verteilung des Batail- 
lons vorgenommen, die 
3. Kompagnie rückte auf 
Schustersrappen nach 
Schumök, der 3. Zug 
mit dem Befehl, ein 
Waldstück an der Sze- 
szuppe zu besetzen. Eine 
Nachtwanderung führte 
den 3. Zug, in dem 
unsere 178er sich be- 
fanden, durch zum Teil 
völlig verwilderten Wald 
bis zu einer Schule, in der die letzten Nachtstunden, bis 
zum Dämmern des nächsten Tages nebeneinander hockend, 
verbracht wurden. Darauf stießen wir weiter vor, bis der 
Fluß erblickt wurde, der noch zum Teil zugefroren war. 
Ein kleines Feuergeplänkel mit dem am jenseitigen Ufer 
befindlichen russischen Vorposten veranlaßte den Trupp 
zunächst, am Waldrande unweit des Flusses eine gut 
deckende Stellung zu beziehen, bis mittags 12 Uhr der 
Befehl einlief: „Stellung über dem Fluß nehmen“. Um 
1 Uhr ging der 3. Zug von einem Maschinengewehr unter- 
stützt, durch russisches Flankenfeuer hindurch bis zum Flusse 
vor. Während des Stürmens hatte unsere Artillerie auf 
das vom Flußufer aus klar sichtbare Dorf Kusi Brand- 
granaten gefeuert, die nur ein Haus in Flammen auf- 
gehen ließen. Diese Wirkung und das Erscheinen des 
Schneeschuhtrupps genügte jedoch, die Besatzung, die sich 
vom Flußufer ins Dorf zurückgezogen hatte, an die 120 
Mann, zur Ubergabe zu veranlassen. Nach Wegwerfen 
ihrer Waffen suchten sie sich vorsichtig über das Eis des 
Flusses einen Weg zu uns. Ein gut Teil sprach fließend 
Deutsch, wodurch wir schnell erfuhren, daß mehrere ihre 
Familien in Deutschland (Thüringen) hatten. Sie schüt- 
telten uns die Hände und brachten Wutki und Honig. 
Honig in einer Form, wie sie die Großstadt in diesen Zeiten 
nicht zu sehen bekommt, nämlich volle ganze, goldige 
Waben, 1½ cm stark, noch im Holzrahmen von etwa 
302#i0 em Größe. Dagegen tauschten sie sich Brot ein. 
Unter den Gefangenen war kein Offizier noch Unteroffizier. 
Treuherzig meinten die „Ruskis“: daß die Herren Offiziere 
fortgegangen, ins Landserdeutsch übertragen „gerückt“ seien.
	        
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