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lichen Ohren deutlich wird, ohne daß ein
Feldkessel oder ein Trinkbecher klappert.
Die Schwierigkeit liegt darin, daß die
Front in etwa zwanzig Teile zerlegt werden
muß, deren jeder einzeln handelt. Im
kleinen der große Grundsatz: Getrennt
marschieren, vereint schlagen. Fetzen für
Fetzen der Front springt vor, dreißig
Meter vor dem feindlichen Graben kurzes
Sammeln, dann ein Pfiff, und der Sturm
mit dem orgelstarken Schreckenoruf über-
rennt den Gegner. Die Seitengewehre zit-
tern vor Ungeduld in den Scheiden.Z
* *
*
Die Kleider voll Schlamm, voll
Schnee, geht's heimwärts. Keiner bürstet
daran herum, aber alle singen aus stolzer
Kehle. Besonders wenn Ortschaften be-
rührt werden. Eine kleine Grausamkeit
liegt darin. Niemand soll schlafen, so-
lange die Soldaten wach und fröhlich sind.
Wir haben gearbeitet, geschwitzt, gefroren,
heißt das; nun könnt ihr Schlafmützen
auch darum wissen. Guckt heraus, seht
uns an! Und man guckt wirklich heraus,
guckt mit freundlichen Gesichtern dem
Zuge nach, der wic bald in Feindesland
marschieren wird. Die Mütter treten auf
die Balkone und winken mit den Schnupf-
tüchern; die Dienstmädchen vor die Haus-
tür, denn sie müssen einigen ins Gesicht
sehen. Männer, die noch unterwegs sind,
nehmen wohl den Hut vor dem Führer
ab. Drei Backfische schleichen sich zwischen
mein Pferd und meine Kompagnie ein,
und ich merke es erst, als sie mit ihrem
hellen Diskant den Männerchor zum ge-
mischten erweitern. Sie begleiten uns bis
zur Kaserne, zehn Kilometer weit, nehmen
unbefangen Abschied und singen sich ins
heimatliche Dorf zurück. Ein viertes Mäd-
chen im gleichen Alter bleibt ein Weilchen
am Straßenrand stehen und sagt: „Daß
doch immer die Hübschesten fortmüssen!“
Hat sie einen hübschen Liebsten im Felde
und einen häßlichen Verehrer im Lande?
Kinder werfen sich noch schnell ein Kittel-
chen über, stürmen zu uns herunter und
rufen jeden Zug an: „Kommen noch
mehr 7“ Sie können nicht genug kriegen.
Wären nicht Frauen und Bräute, es
fiele auch beim letzten Auszug keine Träne.
Der Humor ist jung wie am ersten Tag.
Und noch immer nimmt die Bevölkerung
der Stadt auf den kurzen Mirschen zum
Bahnhof teil. Niemand weiß, wohin die
Reise eigentlich geht. Die Reisenden selbst
trösten sich: Riecht's nach Eau de Cologne,
wenn wir ausgeladen werden, so sind wir
in Frankreich; stinkt's nach Schnaps, so
ist'o eben Rußland. Jedem wächst auf
Helm und Brust ein Sträußchen Heide-
kraut, der Schritt ist belebt, die Kehle
nur wenigen zugeschnürt; die meisten
singen wieder, singen, was ihnen unsere
beste zeitgenössische Poesie nicht austreiben kann: Lieder,
die nicht viel Höhe und Tiefe brauchen, den schwer be-
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lasteten Mann nicht mit Atemübungen
qualen und im übrigen kein Wort ent-
halten, über dessen artistische Seltsamkeit
er lächeln müßte. Auf dem Bahnsteig
werden die Wagen, sobald die Einteilung
beendet ist, mit Kreide bemalt und be-
schrieben, und immer ist eine neue Vari-
ante dabei, die vorher in der Kasernen-
stube erprobt worden ist.
* *
*
„Ich kann den Blick nicht von euch
wenden“ — wohin anders sollte ich
schauen, was gibt's in der ganzen Welt
Schöneres als diesen vollgepfropften
Güterzug! Ein Kunstwerk, an das ich
Stunden, Tage, Wochen und Monate des
Studiums gesetzt habe, ist nichts gegen
die Herrlichkeit dieses springlebendigen,
künstlerisch geadelten Menschenknäuels.
Gewiß, die Empfindungen der meisten, die
binaueziehen, sind nicht so kompliziert wie
die manches Betrachters. Auch die stär-
kende Kraft des Beieinanders muß mit-
gerechnet werden, denn wie in der Volks-
versammlung, wie im Theater steckt eins
das andre mit der Fröhlichkeit an. Aber,
aber, worum sich'e handelt, weiß auch der
Einfältigste, dem man die Patronen ein-
gehändigt hat, der die ominöse Erkennungs-
marke unterm Wams trägt. Nicht nur
ums Vaterland geht's, auch ums Leben,
ums eigene nämlich. Seht nur genau hin,
wenn einer am Abteil von Frau, Mutter,
Kind, Freund an den Händen festgehalten
wird! Merkt ihr nicht, wie die Kinnladen
knacken und sich äußerlich abzeichnen?
Den Kehrreim: „In der Heimat, in der
eimat, da gibt's ein Wiederseh'n“, den
sie noch gestern auswendig sangen, singen
sie heute mit innerlicher Begleitung.
Manchen nimmt's so mit, daß er ebenso-
wenig einen Ton herauspressen kann wie
iich die paar Worte, die ich vorm Abmarsch
sprechen wollte. Es gibt da nur zwei Aus-
wege: Entweder halte ich den Mund
ganz und drücke auf dem Bahnhof immer
einem aus jeder Reisegruppe die Hand zum
letzten Gruß oder, wenn geredet werden
muß, so „schimpfe“ ich mein Lebewohl
in die stillstehende Kolonne hinein. Hier
mit Gleichmut schwere Worte zu sprechen,
gelingt nur einem Rohling oder einem
größeren Helden denn mir. Ja, was
schwankt auf diesen Wagenachsen an Über-
zeugungen, an Hoffnungen! Die tausend
persönlichen Dinge des Lebens werden
durcheinandergerüttelt und fallen zu Bo-
den. Obenauf sichtbar bleibt das Gemein=
same: die Waffe, das Kleid, der Trieb,
dem Kriege ein Ende zu machen. Das
glückt, bis sich der Zug in Bewegung setzt.
Doch es kommt die Nacht im Eisenbahn-
wagen, ein neuer Tag, ein zweiter, eine
zweite Nacht, eine dritte, und dann andre
Zeiträume, die in Entbehrungen dahin-
gehen, in Regen, Kälte und Granatenbedrängnis. Da taucht
die ungefährliche Arbeit des heimatlichen Berufes auf, der