Full text: Sachsen in großer Zeit. Band I. (1)

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und die Berliner, auch diesen Entscheidungskampf bestehen, 
und wär' es unter den schwersten Opfern. Das weiß ich. 
Aber dieser gläubige Gedanke zeigt mir auch harte Bilder. 
Wir haben vor Georgiewsk nur Landwehr und Landsturm 
liegen. Feste, treue, beharrliche Mannsleute sind es. Doch 
in der Heimat haben sie Frauen, die bang nach ihren Män- 
nern dürsten, und haben Kinder, die sich sehnen nach der 
Heimkehr ihrer Väter. Und bei den schmerzenden Bildern, 
die meine Sorge mir zeigt, muß ich immer des schönen 
und ernsten Verses denken, den ich in Belgien auf dem 
Grabkreuz eines Landwehrmannes gelesen habe: 
„Dir, liebe Heimat, Segen und Heill 
Ich bin gewesen von dir ein Teil, 
Hab dir mein Herz gegeben zu essen. 
Wirst meine Kinder nicht vergessen."“ 
Ein machtvolles Dröhnen weckt mich aus meinem ernsten 
Sinnen. Das Wirkungeschießen hat begonnen, um die elfte 
Stunde, als der graue Dunst, der alle Dinge umschleiert, 
sich ein wenig zu lichten begann. Jede Zeichnung der Ferne 
tritt klar heraus. Zur Linken leuchtet in einem tiefen breiten 
Tal die große Silberschlange des Narew, der die Weichsel 
sucht, und zur Rechten vor dem qualmenden Fort steigen 
zwei weißglänzende Leuchtkugeln auf, die von den Unseren 
melden: „Wir liegen schon 200 Meter vor den Wällen“. 
Die Rauchbäume und Trümmerfontänen, die von unseren 
Granaten erzeugt werden, rücken tiefer in das Fort hinein. 
Es dröhnt und donnert, es tackt und knattert, die Erde 
bebt bei den Aufschlägen. Alle Luft ist Sausen und Hall. 
Um Punkt 1 Uhr höre ich den Oberstleutnant mit ruhiger 
Stimme sagen: „In 10 Minuten kann ich den Sturm be- 
ginnen lassen.“ Ich renne zur Straße hinunter und springe 
ins Auto. Nur eine kurze Fahrt bis zum Ufer der Wkra. 
Die Brücke ist weggebrannt. Zwischen ihren verkohlten 
beiden Stümpfen ist ein schmaler Brettersteg über das 
Wasser gelegt . 
zur Linken die gesprengte Eisenbahnbrücke, in deren zer- 
knülltem Gitterwerk, gleich einem sonderbaren Riesenfisch 
im Netze, ein Güterzug mit einer großen Festungskanone 
bängt. Drüben ist ein kleines Dorf. Obwohl der Mittag 
kühl ist, wird es hier für einige Minuten ziemlich heiß. 
Die russischen Granaten platzen in den Gärten und die 
Schrapnellkugeln prasseln über die Dächer her. Der Gegner 
scheint die Nähe des Sturmes zu fühlen und macht noch 
einen gewaltsamen Versuch zur Abwehr der Dinge, die ihm 
  
Der Kaiser besichtigt erbeutete Geschütze in Nowo-Georgiewst 
Während ich da herüberturne, seh' ich 
drohen. Im Hofe des Bauernhauses, hinter dessen Gemäuer 
ich mich zu decken suche, liegen drei Sachsen, die für ih.# 
Heimat starben. Sie sind mit den braunen Zeltbahnen zu- 
gedeckt, Tornister und Helme sind zu Häupten der Ge- 
fallenen aufgestellt. Die grauen Helmbezüge tragen die 
Regimentsnummer. 
Außerhalb des Hofes auf einer gegen das Fort empor- 
steigenden Wiese gewahre ich die drei ersten Schwarmreihen 
dieses Regiments in den frisch aufgeworfenen Deckungs- 
gräben, und während ich unter dem Granatendröhnen hin- 
blicke über die graue Perlenreihe von hundert deutschen 
Köpfen, muß ich plötzlich von Herzen lachen — zwischen 
der ersten und zweiten Schwarmreihe weidet und schnattert 
  
eine große Herde von graugefärbten Gänsen. Sie zupfen 
die Gräser; wenn eine Granate auseinanderplatzt, gucken 
sie verwundert umher. Mit lustigen Worten, doch ver- 
gebens machen die Sachsen den Versuch, die fetten Vögelchen 
aue dieser nicht ganz ungefährlichen Gegend zu verscheuchen, 
und einen höre ich sagen: „Nun meinetwächen, laßt se 
gnabbern, hier ist es immer noch anchenähmer, als in 
der Bratreehre.“ Der weitere Verlauf dieser großen 
Lebensweisheit erlischt in einem gewaltigen, die Erde er- 
schütternden Dröhnen. Droben, hinter der Umwallung des 
Forts, haben gleichzeitig vier schwere Granaten einge- 
schlagen. Eine mächtige braune Wolke umwirbelt das 
Festungswerk. 
Fünf Feldgraue tauchen aus den ersten Deckungsgräben 
heraus — eine Patrouille von vier Mann, die ein junger 
Leutnant führt. Im Laufschritt eilen sie über das Gehänge 
der Wiese hinauf — hinter 
einer feindlichen Schieß- 
scharte, die aus dem Qualm- 
gewirbel herausdämmert, 
sehe ich ein paar Russenköpfe 
hin und her rutschen, und 
als die fünf mutigen Sachsen 
das Drahthindernis erreichen, 
prasselt ihnen eine Salve 
entgegen. Alle fünf strzen. 
Mir schnürt es das Herz zu- 
sammen — aber nein, Gott 
sei gepriesen, sie leben. 
Sie haben sich nur in Dek- 
kung niedergeschmissen. Jetzt 
richten sie schon wieder die 
Köpfe auf und spähen. Eine 
neue schwere Granatenreihe 
der deutschen Geschütze don- 
nert hinter den Wällen hinein. 
Es dröhnt und wirbelt und 
knallt. Können denn Men- 
schen in einer solchen Hölle 
noch leben? 
Und jetzt — ein Befehl!
	        
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