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tung hinüber zu klettern, obgleich man die Russen in nächster
Nähe noch sprengen hörte. Das Wagnis gelang, die deutschen
Offiziere wurden jenseits von der heranströmenden Menge
aufs freundlichste bewillkommnet und in deutscher Sprache
angeredet. Ist doch Wilna eine alte deutsche Siedelung.
Ja, Frauen und Mädchen spendeten Blumen über Blumen.
Immer mehr wucho die Begeisterung der Volksmenge, je
weiter die Deutschen kamen, das Lied „Deutschland, Deutsch-
land über alles“ wurde plötzlich in der Menge angestimmt,
und sein Klang pflanzte sich fort von Straße zu Straße.
Und siehe da, mit einmal krochen, drückten sich russische
Soldaten aus den Häusern vor, boten ihre Waffen an und
folgten, freiwillig sich gefangen gebend, dem Brigadestab.
Ihbre Schar wuchs von Stunde zu Stunde, es wurden in
den Straßen Wilnas fast so# bewaffnete Soldaten zu
Gefangenen gemacht. Sie hätten kämpfen, hätten auch
flüchten können, verspürten aber nicht die geringste Lust
mehr, sich für Väterchen Zar oder seine Natgeber zu opfern.
Am Portal des Nathauses empfing der Bürgermeister
den deutschen Brigadeführer und bat ihn, in den Sitzungs-
saal zu folgen, wo sich sofort die Vertreter der Stadt-
verwaltung versammelten. Der Oberst eröffnete den Herren,
daß die Brigade Besitz von der Stadt ergriffen habe.
Handel und Wandel sollten unter deutschem Schutz ruhig
ihren ungestörten Fortgang nehmen, fortan aber habe der
deutsche Befehlohaber die oberste Gewalt. Die Verhand-
lung wurde schriftlich aufgenommen, von den Herren des
Brigadestabes Graf Pfeil, Rittmeister Michahelles und
Leutnant Crasemann und anderseits vom Bürgermeister und
den Stadträten unterzeichnet. Im Anschluß daran diktierte
Graf Pfeil in aller Eile einen Zuruf an die Einwohner der
Stadt, der sofort in deutscher, polnischer und russischer
Sprache in den Straßen angeschlagen wurde.
„An die Einwohnerschaft von Wilno“.
Deutsche Streitkräfte haben das russische Heer aus
dem Bereich der polnischen Stadt Wilno vertrieben
und haben mit Teilen Einzug gehalten in die chr-
würdige, überlieferungsreiche Stadt Wilno. Sie war
immer eine Perle in dem ruhmreichen Königreich
Polen. Dieses Reich ist der deutschen Nation befreun-
det. Das deutsche Heer hat warmes Mitgefühl mit
der auf harte Proben gestellten Bevölkerung Polens.
Mit Empörung sieht das deutsche Heer auf die rohen
Schandtaten, die im Namen der russischen Machthaber
an der leidenden Einwohnerschaft und an ihrem Be-
sitztum verübt werden. Es ist notwendig, bekannt zu
machen, daß die ringsum brennenden Dörfer russische
Taten beleuchten. Die deutsche Heeresmacht will be-
müht sein, die Härten des ihr aufgedrungenen Krieges
der polnischen Bevölkerung zu erleichtern, so auch in
Wilno. Handel und Wandel, sowie jede friedliche Be-
tätigung der Einwohnerschaft soll gefördert werden.
Die Sicherheit und Überwachung der Ordnung und
Ruhe in der Stadt soll in den bewährten Händen
ihrer bisherigen Obrigkeit verbleiben; nur bei einer
Störung dieser Ordnung, über welche die städtische
Obrigkeit nicht Herr zu werden vermöchte, würde ich
mich genötigt sehen, mit militärischen Mitteln Hilfe
zu leisten. Von dem Ordnungssinn und der Friedens-
liebe der Bürger Wilnos wird erwartet, daß sie nichts
gegen die deutsche Heeresmacht oder Teile derselben
unternehmen. Die Kriegsgesetze bedrohen solche Hand-
lungen mit schweren Strafen an Leib und Leben. Ich
wünsche nicht, in Wilno irgend eine Strafgewalt aus-
zuüben. Gott segne Polen!
Wilno, den 18. September 1918.
Graf Pfeil.
Unterdessen zogen draußen mit Musik und Gesang, Kom-
pagnie nach Kompagnie, die Tapferen der Gespensterbrigade
durch die Hauptstraßen der Stadt. War das ein Jubel
von seiten der Bevölkerung! Keiner unserer Soldaten blieb
ohne Blumenschmuck, man drückte den deutschen Befreiern
die Hände, bat um Nachrichten, bettelte um deutsche Zei-
tungen. Die armen Einwobner wollten doch einmal die
Wahrheit wissen, nachdem sie durch Monate nur mit Lügen-
meldungen abgespeist worden waren.
Nach all den verlustreichen Kämpfen blutiger Monate
bätten die braven Minner der Gespensterbrigade es wohl
verdient gehabt, in der von ihnen befreiten Stadt, inmitten
einer Bevölkerung, die ihre Retter mit Jubel empfangen,
für einige Tage zu rasten. Aber getreu dem Wahlspruch
der tapferen Brigade: „Die Sachsen voran!“ gönnten
sich unsere Leute keine Ruhe, dem fliehenden Feinde mußte
nachgesetzt werden. Und während andere Regimenter sie
ablösien, legten unsere sächsischen Landwehrleute am selben
Tage noch 25 Kilometer hinter den Russen her zurück.
Georg v. d. Gabelentz.
Der Kaiser bei der Brigade Pfeil
In der Mittagsstunde fliegt über die Gruppen und
Reihen der Feldgrauen die Nachricht hin: Der Kaiser
kommt, zwischen Fort XVI und XV ist Feldparade, auf dem
Boden des härtesten Kampfes, in dem die Brigade des
Grafen Pfeil unter schweren Opfern den Sieg erzwang!
General v. Beseler, der Verschwiegene mit dem feinen
Gleichnis vom Arzt und vom leidenden Kind, muß also“
doch gewußt haben, daß Nowo-Georgiewsk am Abend des
Neunzehnten fallen wird. Sonst könnte der Kaiser nicht
jetzt, am 20. August, schon auf der ruhmvollen Kampf-
stätte eintreffen.
Die brennende Zitadelle wird leer. Alles strömt zum
Ufer des Wkra, zum Paradefeld.
Kein Kaiserwetter, immer rieselt der feine Regen durch
das endlos von Rauch durchwitterte Grau herunter, und
doch ist es ein wundervolles Bild. Auf der Straße die un-
übersehbare Reihe der Kraftwagen und Geschütze, daneben
die zerrissenen Wälle der eroberten Festungswerke und
auf den weiten Feldern die Brigade Pfeil mit ihren langen
Truppenzügen, die unbeweglich dastehen wie stählerne
Mauern. Und dabei die österreichischen Kanoniere mit dem
Eichenlaub auf den graublauen Mützen und die preußische
Kavallerie, die Kürassiere und Totenkopfhusaren mit den
flatternden Lanzenfähnchen.
Um 4 Uhr ein klingendes Kommando des Grafen
feil, ein Aufstraffen aller Gestalten und der schmetternde
Präsentiermarsch. Langsam kommt das kaiserliche Automobil
herangefahren über die Straße auf der ihm der braune
Riesenwurm der russischen Gefangenen begegnete. Zur
Linken des Kaisers sitzt General von Beseler, der Hauswirt
des ruhmreichen Gefildes, das sich unter dem Schleier des
Regendunstes in die Ferne dehnt. Noch eine lange Reihe von
Wagen... Der Kaises sieht frisch, gesund und fröhlich aus.
Wieviel deutsche Freude muß dieser Tag ihm in das tiefe
Menschenherz und in die große Fürstenseele schütten. Rasch
schreitet er unter den schmetternden Klängen des Marsches
die langen Reihen der Truppen ab, die ihn begrüßen mit
jubelndem Zuruf.
Die Gruppe der Generale ist gewachsen und jetzt kommt
noch einer, bei dessen Anblick eine fieberhafte Erregung
hinfliegt über das Köpfegewühl der Feldgrauen; auch mir
geht es heiß ins Blut und alle flüstern den Namen, den
die deutschen Mlionen kennen, Hindenburg. Um eine
Stirnbreite ragt seine wuchtige Gestalt über die ihn be-
gleitenden Offiziere hinaus. Das ernste Antlitz ist wie aus