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Ich holte mir zur Vorsorge von einem Neubau eine
sechs Meter lange Stange, die ich, wenn nötig, als Kletter-
stange verwenden wollte. Die andern machten mir das
nach, und das war gut, sonst wären sie weder hinein noch
hinausgekommen. Kurz vor 12 Uhr machten wir uns auf
den Weg. Es war uns mitgeteilt, daß der Parlamentär
nicht wiedergekommen wäre und deshalb 12 Uhr das Bom-
bardement beginnen würde, aber nach dei Innern der
Stadt; wir brauchten deshalb in den Gräben nichts zu
befürchten. Eine Infanteriepatrouille war schon bis an
den ersten Graben gewesen und hatte festgestellt, daß
ein Drahtzaun davor war, und der Graben selbst etwa
fünf Meter tief und trocken war. Die guten Leute dachten
MWunder, was sie geleistet hatten, weil sie eben keine Pioniere
waren und die Anlagen von Festungen nicht kannten.
Drahtscheren hatten wir mitgenommen, und so machten
wir uns zuerst einmal daran, in der ganzen Linie den
schönen Stacheldrahtzaun zu zekschneiden. Dann krochen
wir, fast unhörbar, in der Dunkelheit und dem Nebel ge-
schützt auf dem Bauche 6
bis an den ersten Gra-
benrand. Ein Seiten-
gewehr wurde bis ans
Heft in die Erde ge-
sioßen und ein Tau
daran befestigt, um
beim Hinunterklettern
einen Halt zu haben.
Vorsichtig — man
konnte ja nicht wissen,
was im Graben oder
auf dem gegenüber-
liegenden Wall war —
rutschte ich auf dem
Bauche die Graben-
wand hinunter. Dann
wurde unsere Kletterstange heruntergelassen und meine
beiden Leute folgten.
Die vier Meter breite Grabensohle war mit Gras be-
wachsen, ebenso wie die beiden nächsten Gräben, die wir
zu unserm Erstaunen noch fanden. Die jenseitige Graben-
wand war eine sechs Meter hohe Mauer. Hier begann
nun die Schwierigkeit des Unternehmens. Es war eigentlich
selbstverständlich, daß dort oben mindestens Posten waren.
Aber zu unserm Glück hatten weder die Franzosen noch
Engländer mit so einer Frechheit gerechnet. Bei deutschen
Truppen wäre das unmöglich gewesen.
Schon hier zeigte sich der Wert unserer Kletterstange.
Sie wurde an die Wand gelehnt, von meinen beiden
Leuten gehalten, und ich kletterte hoch, den Nevolver am
Niemen freigemacht und das Seitengewehr zwischen den
Rockknöpfen. Endlich war ich oben und versuchte, mich
durch einen Klimmzug auf den mit Nasen bewachsenen
Mauerrand emporzugiehen. Nachdem ich mich überzeugt
hatte, daß kein Mann in der Nähe war, gab plötzlich
das Erdreich oben nach, an dem ich mich festhielt, und ich
stürzte wieder herunter und blieb auf dem Rücken liegen.
Auch meine beiden Leute warfen sich sofort hin und
drückten sich an die Mauer, denn durch den Fall mußte
ein Posten, falls einer in der Nähe war, aufmerksam ge-
worden sein. Zehn Minuten blieben wir unbeweglich liegen,
aber es rührte sich nichts. Nun begannen wir von neuem,
schnürten aber an unsere Stange oben ein Gewehr quer
an, um darauf treten zu können und einen Halt zu haben.
So ging es ganz gut, der letzte Mann wurde an einem
Tau bochgezogen.
Vorsichtig, wieder auf dem Bauche kriechend, arbeiteten
wir uns auf die Böschung hinauf und entdeckten zu unserer
Überraschung keinen einzigen Posten, dafür aber einen
Sächsische Gedenkmünze
auf die Einnahme von Lille
zweiten Graben, der noch viel tiefer und beschwerlicher
war als der erste. Es gab aber für uns keine Uberlegung
weiter; wir hatten einmal A gesagt, also mußten wir auch
B sagen. Nach einer halben Stunde hatten wir, wie vor-
ber, die zweite Wallböschung erklommen, ohne etwas vom
Feinde zu bemerken, sahen aber zu unserm Schrecken einen
viel tieferen Graben. Auch da mußten wir durch.
Während die ersten beiden Gräben trocken waren, zog
sich auf der Sohle dieses dritten ein allerdings nur schmaler
Wassergraben hin, der aber doch den Ubergang erschwerte.
Da wir bisher gar keinen Posten getroffen hatten, waren
wir nun auch dreister geworden, wir unterhielten uns
zwar gedämpft, aber immer noch so laut, daß man es
oben hätte hören können. Ich kletterte an der Böschung —
es war diesmal keine Mauer — hinauf. Ich war kaum
halb oben, da sehe ich zu meinem Schrecken auf dem oberen
Glaciskamm langsamen Schrittes, nichts Böses ahnend,
einen Posten kaum 20 Meter entfernt herankommen. Wie
nun meine beiden Kameraden warnen? — Kurz entschlossen,
einer Eingebung fol-
gend, reiße ich meine
Mütze vom Koypfe,
werfe sie hinunter und
treffe so glücklich, daß
sie zwischen den beiden
niederfällt. Ich selber
drücke mich so fest wie
möglich an den Boden.
Die beiden unten
merken sofort, daß hier
etwas nicht in Ord-
nung sei und warfen
sich auf die Erde. Nun
konnte ich feststellen,
wie schwer auf die
10 Merer, die ich ent-
fernt war, unsere feldgraue Uniform zu erkennen ist. Wenn
der Franzose uns nicht gehört hatte, waren wir gerettet.
Nach zehn langen Minuten bangen Wartens, die uns
wie eine Ewigkeit vorkamen, und als sich nichts geregt
batte, erklommen wir gleichzeitig zu zweit den Wall, wäh-
rend der dritte — für den Fall, daß wir nicht wiederkamen
— unsere Aufzeichnung mit dem Befehle erhielt, sich beim
geringsten verdächtigen Geräusch zurückzuziehen, ohne auf
und zu warten. Wir kamen aber unbemerkt hinauf und
herunter. Es war nämlich noch ein vierter Graben, aber
nun wirklich der letzte. Er war nicht so tief, dafür aber
beiderseits steil gemauert und am Boden kreuz und quer
mit Stacheldraht durchzogen. Hier war nun allergrößte
Vorsicht nötig. gelang uns auch hier die nötigen Auf-
zeichnungen zu machen über die Abmessungen und daß
scheinbar nur ganz wenige Leute zur Besatzung da waren.
Hineingekommen maren wir ja ganz leicht, aber heraus
kamen wir zu unserm nicht geringen Schrecken infolge der
hohen Mauer nicht wieder. Wir suchten hin und her, ob
nicht irgend eine Stelle da war, wo der Aufstieg möglich
wäre. Da fanden wir den Einlaß zu einem unterirdischen
Gange, der wahrscheinlich dazu diente, Patrouillen in den
vorderen Graben zu schicken. Einer nach dem andern
schlichen wir vorwärts und kamen endlich zu einer Falltür.
Als wir diese geöffnet hatten, stellten wir fest, daß
wir wieder im zweiten Graben angelangt waren. Nun
aber zurück! Unsere Kletterstange ließen wir noch zum An-
denken da. Nach vier Stunden, gegen 4 Uhr morgens,
kamen wir beim Regimentsstab 181 an und überbrachten
unsere Meldung. Wir waren kaum zu unserm Zuge zurück-
gekehrt, etwa 6 Uhr morgens, da wurde dieser in einzelnen
Gruppen auf die zum Sturme bestimmten Kompagnien
vom Infanterie-Regiment 181 verteilt. Da ich als Motor-