Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

Der Feldzug gegen die russische Narew-Armee. 
Hindenburgs Sieg bei Tannenberg 
Als der General v. Hindenburg den Oberbefehl über- 
nahm, war die russische Niemen-Armee, 280 Oco Mann, 
unter General v. Rennenkampf von Stallupönen über 
Gumbinnen und Insterburg, die russische Narew-Armee, 
230 O00 Mann, unter General Samsonow über Mlawa 
in Richtung Neidenburg—Allenstein im Vorrücken auf 
Königsberg begriffen. Beide Armeen, mit der russischen 
Zwischenarmee von Grodno, 100 ooo Mann, die gegen 
Goldap und Lyk anrückte, zusammen rund 610 Ooo Mann, 
hatten das gemeinsame Ziel, das deutsche Ostheer — höch- 
stens 225 Ooo Mann mit Einrechnung der Etappen-, Siche- 
rungs= und Besatzungstruppen — einzukreisen, zu er- 
drücken oder wenigstens gegen die Ostsee im Raume von 
Königsberg zu werfen. " 
Der gefährlichste Gegner für den neuen deutschen Armee- 
Oberbefehlshaber war in diesem Augenblick die russische 
Narew-Armee. Sie schnitt durch ihr weiteres Vorgehen 
dem deutschen Ostheer die Verbindung ab. Sie zu vernichten, 
nicht etwa bloß zu schlagen und zurückzuwerfen, war das 
erste Kriegsziel, das der Feldherr Hindenburg sich stellte; 
also ganze Arbeit von Anfang an. Auf sie wurde die 
ganze Kraft gewandt. Nur etwa 60 O00 Mann mußten für 
Bindung der russischen Niemen-Armee und für Deckung 
des deutschen Hinterlandes genügen, nur 30 000 Man 
wurden gegen die feindlichen Zwischenkräfte auf Linie 
Goldap-Lyock verwendet. Den Hauptteil des Heeres, 138 000 
Mann, setzte Hindenburg derart in Bewegung, daß die 
russische Narew-Armee bei Fortsetzung ihres Vormarsches 
umstellt und vernichtet werden mußte. Es war also die 
Vernichtungsschlacht geplant, für welche, nach dem Moltke- 
schen Vorbild von Sedan, der General Graf Schlieffen, 
der Bedeutendsten einer aus der Feldherrnschule, die der 
greise Moltke Anfang der neunziger Jahre des letzten 
Jahrhunderto seinem Kaiserlichen Herrn als wertvollstes 
Erbe hinterließ, das Schlagwort „Cannae“ geprägt hat. 1) 
Tatsächlich hat sich ein Über-Cannae in dem Sumpf- 
See= und Waldgebiet zwischen Hohenstein—Ortelsburg— 
Willenberg vollzogen. Von den 230 ooo Mann der russi- 
schen Narew-Armee gingen dort mindestens 40000 Mann 
zugrunde, 125000 Mann (davon 30 O00 Mann verwundet) 
wurden gefangen, nur ein Rest ohne Waffen und fortab 
ohne Widerstandskraft, gelangte als Träger des neuesten 
Kriegsbazillus, des Hindenburgschrecks, über die Grenze. 
Man würde das Feldherrntum Hindenburgs verkleinern, 
wollte man die Vernichtung der russischen Narew-Armee 
einfach als die Schlacht von Tannenberg, in der die Russen 
Nücklich in die Hindenburgfalle hineinliefen, bezeichnen. 
Die Größe der kriegerischen Tat, mit der Hindenburg seine 
Feldherrnlaufbahn eröffnete, war unabhängig von Ort und 
Geländebeschaffenheit. Sie liegt in der unsagbar kühnen, 
verblüffend einfachen, der Uberlegenheit seines Heeres siche- 
ren Anlage des Feldzuges. Was Samsonow auch tat, er 
war geliefert, wenn nicht Rennenkampf rechtzeitig eingriff, 
und gerade das verhinderte der meisterhaft durchgeführte 
Plan Hindenburgs. Kühn nahm er die Gefahr in Kauf, 
zwischen den Russenheeren zermalmt zu werden, wenn 
Rennenkampf, nur wenige Tagemärsche entfernt, mit 
* Korps in seinem Rücken erschien, während er mit Sam- 
sonow abrechnete. 
Genial erkoren war auch die Walstatt, das Wald= und 
Seengebiet zwischen Orteloburg, Hohenstein und Neidenburg, 
das Samsenow im Marsche auf Allenstein in getrennten 
  
1) Bei Cannae in Süditalien schlug der Karthager-Feldherr Hannibal 
216 v. Chr. das um ½ überlegene römische Feldheer, indem er mit 
seinen besten es beide feindliche Flügel umfaßte, schließlich 
die feindliche Masse völlig einkreiste und vernichtete. 
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Marschsäulen durchzog, als ihm der Gegner die Schlacht 
mit halbverwandter Front aufzwang. 
Der Verlauf der Augustschlacht ist schnell wiedergegeben. 
Die russische Narew-Armee war im Vormarsch nach 
Nordwesten zur Vereinigung mit der Niemen-Armee. Sie 
erreichte mit ihren Hauptkräften am 24. August etwa die 
Linie Mlawa—MWillenberg, am 25. August Hohenstein und 
am 26. August Tannenberg. Der linke Flügel, etwas ver- 
halten, gelangte bis Usdau und Lautenburg, der rechte 
Flügel, durch schwieriges Wald= und Sumpfgelände von 
der Heeresmitte getrennt, bis Allenstein. Noch weiter rechts 
und stark vorgeschoben, erreichte ein russisches Seitenkorps 
über Ortelsburg—Bischofsburg am 26. August sogar 
Lautern. Letzteres sollte mit Rennenkampf baldmöglichst 
Verbindung aufnehmen und den Gegner, der vor der Front 
der Narew-Armee stand, in seiner linken Flanke bedrohen. 
Hindenburg war es inzwischen gelungen, den Hauptteil 
der Truppen des deutschen Nordflügels von der russischen 
Niemen-Armee loszulösen. Er gruppierte seine verfügbaren 
Kräfte, 135 000 Mann, rings um das Vormarschgebiet 
der russischen Narew-Armee bis zum 26. August wie folgt: 
Rechter Flügel (1. Landwehrdivision und I. Armee- 
korps) auf Linie Lautenburg—Usdau mit Vormarschziel 
Soldau—Meidenburg. 
Mitte (zunächst nur sechs Landwehrregimenter mit 
reichlicher schwerer Artillerie, später auch das XX. Armee- 
korps) auf Linie Oschekau—Hohenstein als Abwehrfront. 
Das XX. Armeekorps, zunächst in Richtung auf Mlawa 
vorgeschoben, hatte erst die Russen in der gewollten Nord- 
westrichtung nachgezogen, bevor es links vom I. Armee- 
korps wieder Front machte. 
Der linke Flügel (I. Reservekorps und XVII. Ar- 
meekorps, beide noch im Anmarsch) sollte bei Allenstein 
(I. Reservekorps) und Bischofsburg (XVII. Armeekorps) 
den feindlichen Vormarsch aufhalten, den Gegner zurück- 
werfen und dann auf Ortelsburg gegen Flanke und Rücken 
der Russen vordringen. Drängte Rennenkampf hinter ihnen 
nach, so mußten die dort befehligenden deutschen Generale 
sich auch damit abfinden. Man sieht, eine Kühnheit des 
Entschlusses offenbart diese Feldzugsanlage, der nur dann 
Erfolg erblühen konnte, wenn ihr die Ausführung durch 
den eigenen Generalstab und eine Elitetruppe unter gleich 
genialen Unterfeldherrn entsprach. 
Am 26. August begann bei allen drei Gruppen der 
Kampf. Der rechte deutsche Flügel hielt sich östlich der 
Linie Usdau—Kautenburg. In der Mitte gingen die deut- 
schen Vortruppen bis zur Linie Öschekau—Tannenberg— 
Dröbnitz—Sophiental zurück. Bei der linken deutschen 
Gruppe schlug die 36. Infanteriedivision (XVII. Armee- 
korps) die äußerste rechte Flügelkolonne der Russen und 
trieb sie auf Ortelsburg zurück, dagegen fiel Allenstein, 
das bisher nur schwache Vortruppen des Reservekorps 
erreichen konnten, vorübergehend in russische Hand. 
Am 27. und 28. August mühten sich die Russen in 
immer erneuten Anstürmen, ohne jede Rücksicht auf 
Menschenverluste, die deutsche Mitte zu durchbrechen. Schon 
am 27. August zog Samsonow von seinem linken Flügel 
beträchtliche Kräfte nach der Mitte. So vermochte be- 
reits am 27. Augusi der rechte deutsche Flügel zum An- 
geif überzugehen und bis zum Abend des 27. August. 
is Groß-Tauersee und Soldau vorzudringen. 
Als am 28. August Samsonow auch seinen rechten 
Flügel schwächte, um in der Mitte zu siegen, nahm das 
deutsche I. Reservekorps Allenstein. Die deutsche Mitte, 
jetzt Landwehr, 1½ I. Reservekorps und XX. Armeekorps, 
ging nunmehr zum Gegenstoß über, warf die russische 
Mitte über die Linie Waplitz—Hohenstein zurück und 
drängte sie gegen den Mautitzer und Maransensee. Auf 
dem rechten deutschen Flügel gewann das I. Armeekorps
	        
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