Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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unter fortwährend gleichhohem Druck. Da sich eine streng 
durchgeführte Arbeitsteilung in der Landwirtschaft aus 
natürlichen Ursachen nicht durchführen läßt, ergeben sich 
für den Kriegsbeschädigten manche Vorteile. Vor allem 
erfährt die durch den Krieg und die Verwundung geschwächte 
Nervenkraft eine wohltätige Anregung und Belebung. Dann 
aber ergibt sich die Möglichkeit, die Arbeitskräfte auf 
jeder Stufe der Leistungsfähigkeit zu beschäftigen. Denn, 
wenn in der Landwirtschaft Männer und Frauen vom Kin- 
dec= bis zum Greisenalter stets eine ihren Kräften ange- 
paßte Beschäftigung finden, wird auch der nach dieser oder 
jener Richtung hin nicht mehr leistungsfähige Kriegsbeschä- 
digte immer an den rechten Mlatz gestellt werden können. 
Die ländlichen Betriebe haben nicht nur Verwendung 
für di: meisten der aus ihnen stammenden Kriegsbeschädig- 
ten, eo wird sich vielmehr auch für manchen ehemaligen 
städtischen Arbeiter hier ein gesegnetes Feld der Tätigkeit 
eröffnen, als wenn er wieder nach der Stadt zurückkehrt 
und dort mit Mühe ein notdürftiges Unterkommen findet. 
Während also in den meisten Berufen vor einem Zuzug 
nicht genug gewarnt werden kann, tritt hier der umgekehrte 
Fall ein. Damit soll keineswego gesagt werden, daß jeder, 
der zu nichts anderem zu gebrauchen ist, in der Landwirt- 
schaft unterzubringen sei. Das, was hier nottut, sind nicht 
nur Arbeitokräfte, sondern fühlende Menschen, denen die 
Arbeit Freude bereitet und die bodenständig sind und sein 
müssen. Aus diesem Grunde ist auch die Siedelungs- 
frage mit der Beschäftigung der Landarbeiter eng ver- 
knüpft. Ohne Zweifel wird derjenige am sichersten auf dem 
Lande festgehalten, der eine, wenn auch noch so bescheidene 
Scholle sein eigen nennt. Knüpften sich an die Erkenntnis 
dieser Tatsache schon in Friedenszeiten die Bestrebungen be- 
hördlicher und privater Unternehmungen, so ist diese An- 
gelegenheit durch den Krieg noch mehr in Fluß gekommen. 
Die Frage der Besiedelung ist ja vom rein land- 
wirtschaftlichen Standpunkt aus für Sachsen keine so 
brennende, wie etwa für die Ostmarken des Deutschen 
Neiches. Im Zusammenhange mit der Kriegsbeschädigten- 
fürsorge bekommt sie aber ein anderes Gesicht. Während es 
sich in ersterem Falle darum handelt, landwirtschaftlich 
wenig oder gar nicht ausgenüitzte Landstrecken der Boden= 
kultur zu erschliesßen oder dem fühlbaren Mangel an Ar- 
beitskräften abzuhelfen, ist bei letzterer das Wohl der 
Kriegsbeschädigten in erster Linie maßgebend. Auf die Be- 
deutung der Kriegersiedlungen und ihre Ausgestaltung kann 
hier nicht näher eingegangen werden. Daß es gesundbheitlich 
für Kriegsbeschädigte, die doch auch, abgesehen von dem 
Verlust von Gliedern, meist noch jahrelanger Schonung 
bedürfen, viel empfehlenswerter ist, auf dem Lande zu 
wohnen und zu arbeiten, leuchtet ohne weiteres ein. 
Aber auch die Arbeitsbedingungen sind da in der Regel 
günstiger. Wie schon gesagt, bietet die Landwirtschaft mit 
ihrem mannigfachen Wechsel körperlich schwerer und leich- 
terer Arbeit ungemein viele Möglichkeiten zu nutzbringen- 
der Beschäftigung. 
Der selbständige ländliche Betrieb kann auch in den ein- 
fachsten Verhältnissen durch Kleintierzucht, Bienenpflege 
oder Garten= und Obstbau gewinnbringend gestaltet wer- 
den. Aus diesem Grunde legen die landwirtschaftlichen Lehr- 
gänge für Kriegsbeschädigte der theoretischen und prak- 
tischen Auobildung nach der gegebenen Richtung hin be- 
sonderen Wert bei. 
In der Landwirtschaft selbst sind demnach die Arbeits- 
bedingungen troß scheinbarer Schwierigkeiten bei weitem 
günstiger als in der Industrie. Der Einwurf, daß ein 
Landarbeiter vor allem im Vollbesitz gesunder Glieder sein 
müsse, ist durch Beispiele aus der Praxis längst wider- 
legt worden. Noch ehe wir an den Weltkrieg dachten und 
Kriegsbeschädigte nur als „alte Invaliden“ hier und da 
ein beschauliches Dasein führten, konnte man vereinzelt 
auch als Landwirte Leute arbeiten sehen, denen man den 
Verlust eines Gliedes nicht anmerkte, wenigstens nicht der- 
art, daß ihre Bewegungofreiheit wesentlich gehindert wurde. 
Ein mir bekannter Landwirt in der Provinz Sachsen besitzt 
ein Kunstbein. Er arbeitet ununterbrochen in seinem Be- 
trieb, steigt auf der Leiter ohne Hilfe empor, fährt mit der 
Sense ausgerüstet auf dem Nad ins Feld hinaus und be- 
hauptet, daß er alle ländlichen Arbeiten ohne fremde Unter- 
stützung ausführen kann. Hier handelt es sich um bäuerlichen 
Kleinbetrieb, in dem also von einer Arbeitsteilung kaum 
die Rede sein kann. Ein anderer mir bekannter Fall betrifft 
einen Gutsinspektor, der die linke Hand verloren hat. 
Auch er ist imstande, mit Hilfe eines Behelfsgliedes die 
verschiedensten ländlichen Arbeiten vollständig und dauernd 
zu verrichten. Wie überall spielt natürlich fortgesetzte, von 
einem starken Willen getragene Ubung eine große Rolle. 
Die landwirtschaftlichen Geräte sind meist der Art, daß 
ihr Gebrauch mit Hilfe einer geeigneten Prothese keine un- 
überwindlichen Schwierigkeiten bietet. Meist sind die ein- 
fachsten Behelfsglieder, sofern sie sinnreich zusammenge- 
stellt sind, am brauchbarsten, schon deshalb, weil etwaige 
Ausbesserungen schnell und ohne Umstände ausgeführt wer- 
den können. Es sei hier die bekannte „Kellerhand“ er- 
wähnt, die zu den brauchbarsten Arbeitsklauen gehört, 
trotzdem oder weil ihre Erfinder ein einfacher Landwirt ist. 
Auch der Umstand, daß Arbeitsmaschinen sich in der 
Landwirtschaft mehr und mehr auch im Kleinbetrieb ein- 
bürgern, ist für die Kriegobeschädigten in mancher Be- 
ziehung günstig. Sind die Maschinen schon an und für 
siche ine Entlastung der menschlichen Arbeit, so können durch 
besondere Einrichtungen und Verbesserungen für körper- 
lich Geschädigte noch vielfache Erleichterungen geschaffen 
werden. Eine Reihe von Ackergeräten, namentlich Walzen 
und Kultivatoren, lassen sich ebensogut im Fahren be- 
dienen, als wenn der Führer nebenher laufen muß. Auch 
die schon erwähnte immer weitere Kreise ziehende Ver- 
wendung der Elektrizität als Antriebskraft verdient an 
dieser Stelle hervorgehoben zu werden. Ebenso wie sich der 
Bauer nicht mehr über die Glühlampe im Kuhstall wun- 
dert, wird er auch die Vorurteile, die hier und da noch 
gegen die Kleinmotore herrschen, überwinden. Er wird 
ald merken, daß die Maschinenkraft nicht nur dem Groß- 
betrieb zum Vorteil gereicht, sondern auch dem einfachen 
ländlichen Haushalt bei geschickter Anwendung und Aus- 
nutzung die besten Dienste leistet. Die Nühtzlichkeit der 
Maschinenkraft, namentlich in der Form von Kleinmotoren 
mit elektrischem Antrieb, wird sich, auf Kriegsbeschädigte 
angewendet, in erhöhtem Maße zeigen. 
Ganz besonders in den Betrieben des ländlichen 
andwerksl Der kriegsbeschädigte ländliche Handwerker 
ist seinem Fachgenossen in der Stadt nicht nur wirtschaftlich 
in der Regel im Vorteil, sondern auch das Gewerbe an sich, 
die ganze Art und Weise des Arbeitsvorganges ist meist 
derart, daß die körperlichen Mängel weniger hindernd sich 
bemerkbar machen. Einmal stehen die Arbeiten der meisten 
Handwerker mit denen des Landmannes in engster Ver- 
bindung. Es findet demnach ein ähnlicher Wechsel von 
größerer oder geringerer Inanspruchnahme statt. In land- 
wirtschaftlich ruhigen Zeiten wird das eigentliche Handwerk 
mehr in den Vordergrund treten als sonst. Da der länd- 
liche Handwerker fast stets auch Landwirt ist, sind die 
Möglichkeiten der Betätigung einmal sehr groß, dann aber 
auch die Gefahr einer durch zeitweiligen flauen Geschäfts- 
gang hervorgerufenen wirtschaftlichen Krise ausgeschlossen. 
Der Handwerker auf dem Lande vereinigt vielfach meh- 
rere Gewerbe in einem Betriebe, um den örtlichen Bedürf- 
nissen besser entsprechen zu können. Hierbei kommen vielen 
Kriegsbeschädigten die in den Lazarettwerkstätten und Aus-
	        
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