Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

„Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt, 
Bloß wir haben sie nie mit einem Namen genannt. 
Herrlich offenbarte es erst deine größte Gefahr, 
Daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war! 
Denk' es, o Deutschland“ 
(Dichtung von einem Arbeiter.) 
Ein Volk, ein Herzschlag, so hieß es jetzt einhellig, wie 
nie zuvor. Bei solchem Denken trat die Bedeutung der 
eigenen Persönlichkeit gegenüber der Millionen umfassen- 
den Gesamtheit unendlich zurück. Bisher waren mit Vor- 
liebe Rechte gefordert worden; jetzt galt die Pflicht. Oas 
Begehren verstummte, Losung ward Opferbereitschaft jedes 
einzelnen mit allen Wünschen und Hoffnungen, ja mit 
dem ganzen Sein für die Rettung von Staat und Volk. Dies 
war die unnachahmliche Größe und Hoheit jener Zeit, daß 
solcher Opfersinn wirklich in Geist und Gemüt lebte: nicht 
äußerem Zwange folgend, sondern mit freiem Willen gab 
man sich hin, wahrhaftig nicht leichten Sinns, oft genug 
in schmerzlichster Erfahrung nach schwerem Ringen mit 
sich selbst, doch in der tiefen Erkenntnis der unentrinnbaren 
Notwendigkeit. So entzündete sich eine wahre Aufopferungs- 
lust: zu den Fahnen drängten sich Hunderttausende, die 
nicht gerufen waren, selbst Knaben und Männer in weiß- 
lich-grauem Haar; oder sie eilten zum Dienst an den Kran- 
ken, zur Bereitung von Liebesgaben, zu sozialem Hilfswerk. 
Man wollte nicht gemächlich genießen, wo andere darb- 
ten; mit brennender Sehnsucht wünschte man selbst Ent- 
behrungen zu leiden, ungewöhnliche Arbeit zu tun, die eigenen 
Kräfte Leibes und der Seele über das Maß anzuspannen 
und sich aufzureiben, um nur nicht allzusehr hinter denen 
zurückzubleiben, die persönlich das größte Opfer, oft in 
furchtbarer Qual, brachten, dle Hingabe von Gesundheit 
und blühendem Leben. 
Ein leuchtendes Beispiel echten Opfermuts gab der Professor 
der Theologie an der Leipziger Universität C. R. Gregory, der, 
Amerikaner von Geburt, seit 1874 hier als Dozent tätig war. Am 
I1. August 1014 stellte er sich, bereits im Alter von 68 Jahren, 
als Kriegsfreiwilliger beim 1. Ersatzbataillon des Infanterieregi- 
ments 106 in Leipzig und setzte es wirklich durch, daß er an- 
genommen ward. Nach zwei Jahren Kriegsdienstes gefragt, 
warum er ins deutsche Heer eingetreten und darin geblieben sei, 
gab er in seiner einfachen drastischen Art zur Antwort: „Ich bin 
nicht Soldat geworden, um pspychologische Studien zu machen, 
um reisen zu können, um „Spaß“ zu haben, um eine Uniform 
tragen zu dürfen oder um meinen Ehrgeiz zu befriedigen. Ich 
bin Soldat geworden, weil ich es für meine Pflicht hielt.“ Sein 
Entschluß war gefaßt, sobald England in die Reihe der mit dem 
Deutschen Reiche Krieg führenden Staaten eintrat. Drei Beweg- 
gründe bezeichnete er als für ihn entscheidend: zuerst war es der 
Gedanke, daß es jetzt galt, alles einzusetzen; sodann der Wunsch, 
seinen Freunden aus kem Arbeiterstande zu zeigen, daß er sich 
nicht davor scheute, mit ihnen in Reih und Glied zu stehen und 
das Schwere des Kriegslebens mit ihnen zu teilen, endlich die 
Erwartung, daß der Dienst eines noch älteren Mannes den 
Jüngeren den Dienst annehmbarer erscheinen lassen würde. Am 
. April 1017 erlag er in Neufchätel den Folgen einer Ver- 
wundung, nachdem er im Felde draußen, wie zuvor in seiner 
Wissenschaft, im alademischen Lehramt und in seiner herzgewinnen- 
den sozialen Betätigung den Grundsatz seines Lebens bewährt 
hatte: Helfer zu sein in der Nachfolge Christi und im Dienst 
werktätiger Nächstenliebe. 
In solcher Zeit, wo die allumfassende Volksgemein- 
schaft als die jede individuelle Verschiedenheit weit über- 
ragende Einheit beherrschend hervortrat, wo Leben und Tod 
als die gleichen Grundtatsachen alles menschlichen Seins 
mit greifbarer Deutlichkeit vor der Seele standen, drang 
eine in dem Kulturreichtum der letzten Friedenszeit längst 
verlorene Schlichtheit und Einfalt des Denkens und Fühlens 
durch. Alles gleißende Flitterwerk, aller Aufputz und er- 
borgte Schein, alle die Künste, mit welchen Menschen so 
oft ihr Dasein gefällig ausstaffieren, verloren ihre Schätzung; 
nur das Echte und Wahre, das ganz Große behielt seinen 
Wert. Was gemeinverständlich im besten Sinne ist, was 
in allen Zeiten zu bestehen vermag, was ganz ursprünglich 
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und einfach aus der Seele quillt und zum Herzen spricht, 
dies allein vermochte in der Erregung jener Tage seine 
Geltung zu bewahren, ja überhaupt erträglich zu sein. Von 
wenigen allgemeinsten Leitgedanken ward die Mannigfaltig= 
keit der Vorstellungen des Alltags zurückgedrängt; bild- 
mäßige Anschaulichkeit, instinktives Erfassen der Lage, ele- 
mentarster Willensausdruck kennzeichneten die Regungen der 
Volkoseele. So waren innere Geschlossenheit, Urtümlich- 
keit, mächtiger Willensimpuls die Wirkungen jenes denk- 
würdigen Geistes von 1914, der sich, wo die Not am größten 
war, wie eine wundersame Kraft aus der Höhe belfend und 
heilend einstellte. Endlich noch eins: Wie eine Lösung inne- 
rer Spannung in der Notzeit nach Kriegsausbruch 1914 
war das Durchbrechen des Humors, im Kreise der Sol- 
daten bräftiger und derber als in der Heimatbevölkerung, 
wo Abschiedsweh und Alltagssorge ihn nicht in gleichem 
Maße aufkommen ließen. Oft war es freilich ein grimmiger 
Humor, während sonst der gutmütige dem Sachsen mehr 
  
Universitätsprofessor C. R. Gregory, der älteste 
Kriegsfreiwillige im deutschen Heer 
liegt, Auch darin offenbarte sich das reinliche Volbsgewissen; 
denn aus schuldbedrücktem Herzen dringt er nicht hervor. 
Gilt all das über den Geist von 1914 Gesagte für ganz 
Deutschland, so sind die einzelnen Veranstaltungen, welche 
die Ausbreitung solcher Gesinnung in Sachsen förderten, 
im besondern aus den Zuständen des geistigen Lebens in 
diesem Lande hervorgegangen. Aus der Fülle dessen, was 
getan ward, sei nur weniges erwähnt, um ein Charakterbild 
des Geschehenen zu entwerfen. 
Eine der Grundkräfte der Seele, bisweilen auf der 
Oberfläche des Bewußtseins unsichtbar, aber dann aus ver- 
borgenen Tiefen brechend, ist die Religion. Wie den Kämpfen 
von 1813 eine Erweckung zu Gottesfurcht, männlich starker 
Frömmigkeit und christlicher Gesinnung vorausgegangen 
war, so brach auch im Sommer 1914, in einer Zeit tiefster 
Seelennot und höchsten geistigen Schwunges, weithin im 
Volke Religion aus gehelmnisvollem Urgrund des Innen= 
lebens hervor. In diesen Tagen sehnenden Drangs nach 
Erlösung von schwerem seelischen Druck versäumte die 
Kirche nicht, als Hüterin des altehrwürdigsten Schatzes 
religiöser Uberlieferung ihren Helferdienst am Volke zu tun. 
Schon vor Kriegsausbruch waren die Worte des 46. Psalms 
auf der Kanzel erklungen und ausgedeutet worden: „Gott
	        
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