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ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen
Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns
nicht, wenngleich die Welt unterginge.“ Nun ordnete altem
Brauche folgend das Evangelisch-Lutherische Landeskonsi-
storium — ähnlich das Apostolische Vikartat in Dresden
für die Katholiken — einen Landesbuß= und Bettag am
7. August an. Die Gotteshäuser waren überfüllt; zahl-
reich drängten sich auch Männer und Frauen herzu, die
vordem nach Christentum und Kirche wenig gefragt hatten.
Wie mancherlei ernste Gedanken mögen laut geworden sein,
wenn nach der altfeierlichen Liturgie der Prediger versuchte,
am heiligen Orte mit erhobener Stimme das auszusprechen,
was alle Herzen bewegte oder bekümmerte. Gewiß auch
Außerungen sittlichen Schmerzes und ehrlicher Entrüstung
über das als ungerecht empfundene Vorgehen der Feinde
gegen uns! Aber vornehmlich war es zweierlei, was immer
und überall von den Kanzeln und vom Altar ergreifend
und eindringlich widerhallte: der Ruf zu innerer Einkehr
und Buße des ganzen Volbes wie jedes einzelnen, um jetzt,
im Angesicht der Ewigkeit, jeden Gefühls unvergebener
Schuld von vergangenen Tagen her ledig, in freiem Auf-
blick zu Gott getrosten Muts tun und leiden zu kbönnen,
was allen auferlegt war; sodann aber die gläubige Zuversicht:
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen
mir Hilfe kommt“ (Pfalm 121), und auf solchem Grunde
die innere Gewißheit: „Wir haben allenthalben Trübsal,
aber wir ängsten uns nicht. Wir leiden Verfolgung, aber
wir werden nicht verlassen“ (2. Kor., 4). Wie unendlich
vielen war es damals lebendigstes Herzensbedürfnis, aus
geistlichem Munde einen Spruch des Segens zu empfangen,
ehe sie hinaus zum harten Handwerk des Krieges in Todes-
gefahr zogen, und auch über ihr geliebtes Volk, das einer
ungewissen Zukunft entgegenging, die Verheißung göttlichen
Segens zu hören; viele Tausende schlossen sich in der Feier
von Beichte und heiligem Abendmahl eng aneinander zu einer
geläuterten Seelen= und Herzensgemeinschaft, die auch der
Tod nicht scheidet. Eins sei ausdrücklich bemerkt: Verehrung
des „deutschen Gottes“ war nicht der Inhalt der kirchlichen
Verkündigung; das Wort flatterte von außen nach Sachsen
herein; so gut es gemeint war, christliche Prediger lehnten
es mit Recht ab. —
Dieser Grundton religlöser Erhebung erklang weit bin-
aus über die Kirchen und Bethäuser; über der ganzen
Volksbewegung von 1914 lag religiöse Weihe gebreitet.
Schon die Wahl der am meisten gesungenen Lieder zeigt dies
an. Nicht das freundlich tröstende: „Lieb Vaterland, magst
ruhig sein!“, sooft es auch angestimmt wurde, traf den
tiefsten Seelenton, sondern Luthers mächtiges Trutzlied „Ein
feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Wasfen!“
mit dem zornig verächtlichen, nun zur leibhaftigen Gegen-
wart gewordenen dritten Vers:
„Und wenn die Welt voll Teufel wär'
Und wollt' uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so sehr,
Es muß uns doch gelingen.“
Und immer von neuem erscholl die altertümliche Weise
des „Niederländischen Dankgebets“ in ihrem markigen
Rhythmus:
„Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten,
Er waltet und haltet ein strenges Gericht;
Er läßt von den Schlechten nicht die Guten knechten,
Sein Name sei gelobt, er vergißt unser nicht!“
Einst in einer kleinen Schar während der harten, wilden
Jeit der niederländischen Freiheits= und Glaubenskriege ent-
standen, wurde es jetzt zumal mit der prächtigen Steige-
rung in gesammelter Kraft am Schluß „Herr, mach uns
freil“ der untvillkürlich gefundene Ausdruck tiefsten Füh-
lens eines Millionenvolks. Die Vorliebe für solche Terte
und Gesänge sind ein klares und überaus wertvolles Zeug-
nis damaligen Volksempfindens. Nicht Selbstgerechtigkeit
spricht daraus; wohl aber das unzweideutige Bewußtsein
des unbefleckten Gewissens, das von keiner Mitschuld am
Ausbruch des Krieges, an dem Beginn des fürchterlichen
Blutvergießens weiß. Die Lieder wurden von Protestanten
und Katholiken gesungen; denn die religiöse Bewegung war
ganz allgemeiner Art, wenn sich auch dabei mannigfache
Formen der Andacht offenbarten. Christen der verschiedenen
Konfessionen nahmen daran teil, ebenso Anhänger des mo-
saischen Glaubens. Auch eine Religiosität auf Grund rein
philosophischer Weltanschauung trat in die Erscheinung: die
Hinwendung zu dem ewigen Urgrund des Seins, zu dem All-
Einen, zu der unerforschlichen und unaussprechbaren Macht,
die über dem Geschick aller Völker und einzelnen waltet,
zu dem Göttlichen, das in der Entwicklung der Menschheit
zu höheren Formen offenbar wird. Daneben gab es freilich
auch eine religiöse Unterströmung, in welcher volkstümliche
Vorstellungen naivfter Art, ja selbst massiv abergläubische
einhertrieben. Da sie nur im geheimen floß, war sie viel-
leicht viel breiter und stärker, als dies scheinen mochte. Im
Ausschauen nach wunderbarer Hilfe wurden Himmelsbriefe
geschrieben oder mit Amuletten und ähnlichen Mitteln bei-
nahe zauberhafter Art Gefeitsein und Sicherung gegen die
pfeifende Kugel des Feindes, gegen Feuers= und Wassers-
not oder anderes Ungemach gesucht. Prophezeiungen gingen
um, und selbst die Astrologie meldete sich, um die Zukunft
aus den Sternen zu lesen. Ubrigens ist es unverkennbar, daß
sich ein nicht ganz geringer Teil gerade der sächsischen Bevöl-
kerung in kühler Verständigkeit oder unter dem Einfluß der
Lehren des „wissenschaftlichen Sozialismus“ dem religiösen
Empfinden verschloß; selbst gegen die Darbietung von Dich-
tungen mit christlichem Inhalt wurde bisweilen eine merk-
liche Zurückhaltung beobachtet. Aber auf das Ganze gesehen,
war die religiöse Erregung stark und tief; in ihren mancher-
lei Ausprägungen bildete sie eine überaus charakteristische
Erscheinungsform des Geistes von 1914 in Sachsen.
Der Religion als schöpferische Seelenkräfte nahe ver-
wandk sind Dichtung und Musik; auch die auf wissenschaft-
liches Erkennen gegründete Rede vermag, wenn sie ihren
Gedankenflug in lichte Höhen richtet, ähnliche Wirkungen
zu erreichen. Darbietungen solcher Art, oft in glücklicher
Mischung von gesungenem und gesprochenem Wort, waren
gern angewandt zur Förderung und als Ausdruck der gei-
stigen Bewegung von 1914.
Die Stätte im sächsischen Lande, wo auf historischem
Boden heroische Volksstimmung am stärksten angeregt wird,
ist das Leipziger Völkerschlachtdenkmal mit seinem mächtigen
Innenraume, dem „Dom“, dessen Maßverhältnisse und
Formensprache vor allem eins ausdrlicken: Größe. Hier
an die grauen Steine gelehnt stehen und, während die Er-
innerung an Völkerschicksal und Opferdienst der Gefallenen
die Seele füllt, in stiller Versunkenheit den lang hinhallenden
Klängen eines Requiems, eines innigen Gebetsliedes, eines
markig frohen Bekenntnisses zum Vaterland lauschen, wie
könnte unser Fühlen edler und schöner über irdisches Leid
und Wünschen emporgetragen werden in Sphären, wo wir
Ewigkeitsluft zu atmen glauben! —
Weltliche Vorstellungen auf Bühnen und in den Sälen,
die nur literarischem Genuß oder dem Vergnügen dienten,
mochten vielen in der ersten Zeit nach Kriegsbeginn kaum
erträglich erscheinen; nur der soziale Gedanke, nicht Hun-
derten von Künstlern die wirtschaftliche Oaseinsgrundlage
zu verkümmern, erleichterte es, von der Forderung abzu-
stehen, daß die Musikkapellen schweigen und die Schauspiel-
häuser geschlossen werden sollten, während unsere Brüder
und Söhne draußen bluteten und den Todesweg beschritten.
Dem großen Zuge der Zeit kam man nach, indem vater-
ländische Stoffe bei der Aufführung von Bühnenstücken
bevorzugt wurden; so gab man gern Körners Zriny, Schillers