Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

mußten oder die Abnahme der Ware durch den auslän- 
dischen Bezieher unsicher war. Inwieweit Ausfuhrmöglich- 
keiten nach dem neutralen Auslande bestehen blieben, ließ 
sich nicht übersehen, während der Verkehr mit dem feind- 
lichen Ausland, mit dem gerade Sachsens Industrie sehr 
ausgedehnte geschäftliche Verbindungen unterhielt, natürlich 
sofort völlig aufhörte. Eine wahre Krisis entstand in der 
Ausführung und Erfüllung der abgeschlossenen Liefe- 
rungsverträge. Niemand wollte die bestellten Fabrikate 
abnehmen, erteilte Aufträge wurden zurückgenommen, nicht 
nur hinsichtlich der Fertigfabrikate, sondern auch der zu 
deren Ausführung notwendigen Rohstoffe und Halbfabrikate. 
Dazu kam als erschwerendes Moment das eigentümliche 
Verhalten mancher Verkaufsvereinigungen und Lieferungs- 
verbände, der Kartelle und Syndikate, das die schwierige 
Situation noch mehr verschärfte. Diese Verkaufsvereini- 
gungen, die in ihren Lieferungsverträgen die sogenannte 
„Kriegsklausel“ vereinbart hatten, gingen vielfach rücksichts- 
los gegen ihre Abnehmer vor, verlangten ungerechtfertigt 
höhere Preise, vorherige Anzahlung und sofortige Bar- 
zahlung nach erfolgter Lieferung, manchmal sogar vorher. 
Dieses Vorgehen wurde gerade in Sachsen sehr stark emp- 
funden und brachte große Beunruhigung in die Kreise der 
Industrie und des Handels. Denn infolge dieses Druckes 
der Syndikate auf die Abnehmer konnten auch diese ihren 
Kunden keine Kredite mehr gewähren, und so geriet das 
ganze Geschäft mit diesen letzten Kunden ins Stocken. Es 
wurde infolgedessen scharf Front gemacht gegen diese Ge- 
bahren und das Eingreifen der Regierung gefordert und 
auch herbeigeführt. In einigen Industriezweigen fiel der 
Kriegsbeginn gerade in die „Saison“, wie überhaupt die 
Industrie gerade um diese Zeit in den meisten Branchen gut 
beschäftigt war, ein Umstand, der natürlich die Wirkungen 
des plötzlichen Stillstandes außerordentlich verschärfte. Das 
besondere Kennzeichen dieser Periode aber war eine aus- 
gedehnte Kreditnot, da naturgemäß infolge der Unsicher- 
heit der Verhältnisse die übliche Kreditgewährung im ge- 
schäftlichen Leben sofort eingeschränkt wurde. Forderungen 
auf das Ausland gingen überhaupt nicht ein, Forderungen 
auf das Inland nur zögernd, obwohl auf der anderen Seite 
die Wechselverpflichtungen der Industrie weiter bestanden 
und sofort zu erfüllen waren. Es wurde daher von den 
Vertretungen der Industrie und des Handels an alle ihre 
Angehörigen die Aufforderung gerichtet, die Kreditgewährung 
nicht über das Maß des Notwendigen einzuschränken, strenge 
Innehaltung der Zahlungsverpflichtungen zu beobachten, 
auch sollten die Gläubiger sich jeder Härte gegenüber der 
Notlage des Schuldners enthalten. An das kaufende Pu- 
blikum ging der Ruf, sofort bar zu bezahlen und nicht, wie 
das in der Kopflosigkeit vielfach geschah, mehr Geld auf der 
Bank abzuheben als notwendig war. Auch die Regierung griff 
sofort ein, indem schon am 4. August 1914 die „Darlehns- 
kasse“ ins Leben gerufen wurde, welche zur Förderung des 
Handels= und Gewerbebetriebes gegen Sicherheit Darlehen 
gewährte und für den ganzen Betrag der bewilligten Dar- 
lehen besonderes Geld, die „Darlehnsbassenscheine“ ausgab. 
Der gesamte Bedarf dieser Scheine sollte 1500 Millionen 
Mark nicht übersteigen. Als Sicherheit wurden angenommen 
Erzeugnisse und Waren, welche dem Verderben nicht aus- 
gesetzt sind, Wertpapiere bestimmter Art, Verpfändung von 
Forderungen, Hypotheken usw. Jur Erleichterung der Kredit- 
not wurden ferner die Kriegskreditbanken geschaffen, 
da die Darlehnskasse nicht ausreichte, um alle notwendigen 
Ansprüche auf Erlangung von Barmitteln zu befriedigen. Das 
Kapital dieser Banken, die als Aktiengesellschaften entstanden, 
wurde von den Banken, den Handelskammern und indu- 
den Städten, der Landesregierung usw. aufgebracht oder garan- 
tiert, und die Kreditgewährung dieser Banken ging unter 
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dieser Garantie noch über das Maß dessen, was die Dar- 
lehnskasse leistete, hinaus. Ferner wurde die Möglichkeit 
geschaffen, daß die Frist für die Einlösung von inländischen 
und Auslandswechseln verlängert und ein Aufschub einge- 
klagter Forderungen erreicht werden konnte. Ein allgemeines 
Wechselmoratorium wurde aber nicht eingeführt, ob- 
wohl weite Kreise der sächsischen Industrie es damals 
dringend wünschten. Ebenso wurde ein allgemeines 
Moratorium, d. h. eine allgemeine Verfügung, daß Zah- 
lungsverbindlichkeiten aufgeschoben würden, von der Reichs- 
regierung nicht bewilligt, obwohl dies in fast allen 
anderen, auch den neutralen, Staaten erfolgte. Es 
hätte Handel und Wandel in Deutschland völlig lahm- 
gelegt, während das allgemeine Wechselmoratorium nur 
eine vorläufige Stundung der Wechselverbindlichkeiten gegen- 
über augenblicklich in ihrer Liquidität geschwächten Unter- 
nehmungen herbeigeführt haben würde. Die deutsche Re- 
gierung lehnte ein solches Wechselmoratorium aber ab, mit 
der Begründung, daß es „das Prestige“ Deutschlands ge- 
schädigt hätte. 
Eine weitere Folge des ersten Schreckens über den Kriegs- 
ausbruch war die vielfach kopflose Schließung von 
industriellen und Handelsbetrieben oder doch ihre 
wesentliche Einschränkung. Sie wurde den Betriebs- 
inhabern nahegelegt durch die massenhaft eingehende An- 
nullierung von laufenden Aufträgen, das Ausbleiben neuer 
Aufträge, das völlige Fehlen des Absatzes und der Zufuhr, 
sowie die oben erwähnte Kreditnot und das Ausbleiben des 
Einganges fälliger Zahlungen. Jeder wollte in dieser Zeit 
Geld einziehen, aber keins zahlen. Waren wollte nie- 
mand nehmen; und es ist vielleicht nichts so kennzeichnend 
für die völlige Umkehrung aller Verhältnisse durch die lange 
Kriegsdauer, als der Umstand, daß am Ende des Krieges 
wiederum alles Waren haben wollte, die man oft gegen hohe 
Jahlung nicht oder doch nicht sofort erhalten konnte. 
Auch war die Meinung verbreitet, der Kriegszustand gebe 
sowohl dem Besteller wie dem Lieferanten das Recht der 
Annullierung von Aufträgen bzw. der Verweigerung 
der Annahme bestellter Ware. Allerdings hatte mancher 
Lieferungsvertrag die sogenannte „Kriegsklausel“, die für 
den Fall des Ausbruches des Krieges dem Lieferanten das 
Recht gab, die Lieferungsverpflichtung für hinfällig zu er- 
klären oder doch für die Lieferung andre, schärfere Be- 
dingungen, namentlich sofortige Barzahlung vorzuschreiben. 
Ebenso glaubten viele, daß ihnen dieses Recht auch ohne 
solche besondere Vereinbarung zustände, weil eben der Krieg 
alle Verhältnisse verschoben habe. So wurden beispiels- 
weise der Spielwarenindustrie, die im Sommer für 
das Weihnachtsgeschäft zu arbeiten pflegte, sämtliche Auf- 
träge gekündigt. Das traf diesen Industriezwveig besonders 
schwer, weil er stets in großem Umfange auf den Erport 
angewiesen war und daher mit der Einstellung bzw. Ein- 
schränkung des Exportes die Inlandsaufträge für ihn, wie 
für viele andere exportierenden Industriezweige von beson- 
derem Wert waren. Durch diese plötzliche Kündigung der 
Aufträge in allen Industriezweigen wurde natürlich die Ver- 
wirrung besonders groß, da die Industriellen ja nunmehr 
meist mit gefüllten Lägern und ohne jeden Auftrag, mithin 
auch ohne Aussicht auf Geldeingang waren. Erst langsam 
hat sich die Rechtsauffassung durchgesetzt, die dahin ging, 
daß der Krieg Lieferungsverträge ohne besondere Kriegs- 
klausel überhaupt nicht berühre, soweit die Kriegsverhältnisse 
nicht die tatsächliche Unmöglichkeit der Ausführung des 
Auftrages zweifelsfrei ergaben. In den meisten Fällen blie- 
ben die Waren zur Verfügung des Käufers, der sie bei 
Eintreten normaler Verhältnisse abzunehmen hatte. Da aber 
dieser Rechtsstandpunkt in den ersten Wochen nicht zweifels- 
frei festlag, so kam naturgemäß eine große Unsicherheit 
in die geschäftlichen Dispositionen der meisten industriellen
	        
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