§ 6. Verhältnis des Reichs zu den Einzelstaaten. 35
zu. Wer ist nun Inhaber oder Träger der Reichsgewalt?
Mitglieder des Reichs sind nach der geschichtlichen Entwick-
lung und nach Art. 6 der Reichsverfassung im Rechtssinn
nicht die einzelnen Bürger, sondern die 25 Einzelstaaten.
Diesen steht die Reichsgewalt kraft eigenen Rechtes zu, sie ist
ihnen nicht übertragen durch Wahl oder auf andere Weise.
Sie sind also in ihrer Gesamtheit Träger der Reichsgewalt,
der Reichssouveränetät. In den 22 monarchischen Einzel-
staaten sind nun Träger der Einzelstaatsgewalt die Monar-
chen, in den 3 freien Städten die Senate. Man kann des-
halb sagen, daß die deutschen Fürsten und die Senate der
freien Städte in ihrer Gesamtheit die Träger oder Inhaber
der Reichssouveränetät sind.
Durch die Teilnahme der Einzelstaaten an der Reichs-
souveränetät sind dieselben in gewissem Sinn souverän ge-
blieben; „innerhalb des Bundesrats findet die Souveränetät
einer jeden Regierung ihren unbestrittenen Ausdruck“, sagte
Bismarck im verfassungsberatenden Reichstag. Für sich
allein aber ist kein Einzelstaat mehr souverän, sondern nur
als Teil der Gesamtheit. Auch in internationaler Beziehung
ist nur das Reich souverän, nicht auch der Einzelstaat. Allein
mit Rücksicht auf ihre Teilnahme an der Reichssouveränetät,
übrigens auch mit Rücksicht auf das Herkommen üben die
Einzelstaaten noch die völkerrechtlichen Ehrenrechte der sou-
veränen Staaten aus; ebenso haben die Landesherrn ihre
persönliche Souveränetät und alle damit verbundenen staat-
lichen und völkerrechtlichen Ehrenrechte ungeschmälert bei-
behalten.
III. Das Derhältnis der Reichszuständigkeit zu
der Suständigkeit der Einzelstaaten ist folgendes:
1. Es gibt eine Reihe von Angelegenheiten,
für die dem Reich die Gesetzgebung und die
Verwaltung in vollem Umfang zusteht. In diesen