Der serbische
Gesandte in
Wien prote-
stiert gegen
die antiserbi-
schen Folge-
rungen aus
dem Attentat.
62 30. Juni
Der serbische Gesandte in Wien, Jov. Jovanowitsch, an
den serbischen Ministerpräsidenten und Minister des
Aeusseren, Paschitch.
Serbisches Blaubuch Nr.5.
Wien.
Da Graf Berchtold mich nicht empfangen konnte, hatte
ich mit dem ersten Sektionschef des Ministeriums des Aeusseren
eine Unterhaltung über das Attentat in Serajewo. Im Vrerlaufe
des Gespräches sagte ich ihm im Resume folgendes : «Die
königliche Regierung missbillist auf das entschiedenste das
Attentat von Seraiewo und wird ihrerseits sicherlich und aui
loyalste Weise alles tun, um zu beweisen, dass sie auf ihrem Ge-
biete keine Bewegung oder Unternehmung duldet, die strafbar
wäre oder unsern bereits so heiklen Beziehungen mit Oester-
reich-Ungarn schaden könnte. Ich glaube, dass die Belgrader
Regierung bereit ist, die Mitschuldigen vor Gericht zu ziehen,
wenn es bewiesen ist, dass es solche in Serbien gibt. Trotz aller
Mindernisse, die von der österreichisch-ungarischen Diplomatie
aufgestellt wurden (Schaffung eines unabhängigen Albaniens,
Widerstand gegen einen freien Ausgang des serbischen König-
reiches zum adriatischen Meere, Forderung der Revision des
Bukarester Vertrages, Ultimatum des Monats September
u. Ss. w.) beharrte die serbische Regierung in ihrem Wunsche,
unsere nachbarlichen Beziehungen auf feste Grundlagen zu
stellen. Sie wissen, dass auf diesem Wege manches geleistet
und erzielt wurde. Serbien will diese Bemühungen fortsetzen,
in der Ueberzeugung, dass sie fortgesetzt werden können und
müssen. Das Attentat von Serajewo soll und kann diese Auf-
gabe nicht hindern. »
Baron Macchio') nahm hiervon Kenntnis und erklärte, dem
Grafen Berchtold alles was ich gesagt habe, mitteilen zu wol-
len. Am selben Tage teilte ich die Grundlinien meiner Unter-
redung dem französischen und dem russischen
Botschafter mit.’)
Serb. Blb. Nr. 5. ') Erster Sektionschef im Ministerium des
Aeussern, Freiherr v. Macchio.
°) Dieses ist die einzige wirkliche Demarche, die von serbischer
Seite nach der Ermordung des Thronfolgers in Wien unternommen
wurde. Wie man sieht, ging sie aber nur von Jovanowitsch selbst aus,
der keinen Schritt im Auftrage seiner Regierung unternahm und kei-
nerlei serbische selbständige Massregeln gegen die Verschwörer an-
kündigte. Es ist bezeichnend, dass er in einem Augenblick, da ganz
Oesterreich-Ungarn gegen Serbien verstimmt war, der österreichisch-
ungarischen Diplomatie die in diesem Zusammenhange erstaunlichen
Vorwürfe über ihre Balkanpolitik machte.