Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechsundzwanzigster Jahrgang. 1910. (51)

44 DPDas Perntshhe Reiqh und seine einzelnen Glieder. (Januar 19.) 
Sie hat folgenden Wortlaut: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, 
daß die Anwendung des Reichsvereinsgesetzes seitens einzelner Landes- 
behörden noch immer gegen das Gesetz verstößt? Was gedenkt er zu tun, 
um einen solchen Mißbrauch des Vereinsgesetzes zu verhindern? Was ge- 
denkt der Herr Reichskanzler ferner zu tun, um zu verhindern, daß trotz 
der Erklärung, die der Staatssekretär des Innern während der Beratung 
des Vereinsgesetzes abgegeben hat, nach wie vor Beamte lediglich aus der 
Tatsache, daß Gastwirte ihre Räume zu politischen Versammlungen her- 
gegeben haben, den Grund entnehmen, diesen Gastwirten die Erlaubnis zur 
Abhaltung von Lustbarkeiten und dergl. zu beschränken oder zu entziehen 
oder sie von der Hergabe ihrer Lokale durch Bedrohung mit derartigen 
Schädigungen abzuhalten unternehmen.“ 
Zur Begründung führt Abg. Dr. Müller-Meiningen aus, daß dem 
Reichstag 1. die Prüfung der Ausführungsbestimmungen der Einzelstaaten 
zum Reichsvereinsgesetz, 2. die Kritik der Ausführung des Vereinzsgesetzes 
durch die Landesbehörden und 3. die Kritik rechtskräftiger Urteile, in denen 
die Rechtsprechung prinzipiell in falsche Wege geleitet werde, zustehen müsse. 
Für die Reichsregierung bestehe die Pflicht einzuschreiten, wenn die unteren 
Behörden das Gesetz in einer den gegebenen Zusicherungen widersprechenden 
Weise ausführen. Kaum jemals ist der Name eines Staatsmannes so eng 
mit einem Reichsgesetz verbunden, als der des gegenwärtigen Reichskanzlers 
mit dem Reichsvereinsgesetz. Da Herr v. Bethmann Hollweg mehrfach hier 
für eine loyale Handhabung dieses Gesetzes eingetreten ist, so hätte ich den 
dringenden Wunsch gehabt, daß er wenigstens dieses eine Mal mit seiner 
Parlamentsscheu gebrochen hätte und es der Mühe für wert gehalten hätte, 
hier zu erscheinen. Allmählich ist die Schonzeit für eine verständnislose 
Bureaukratie vorbei. Die preußische und sächsische Bureaukratie hängt mit 
einer gewissen Zärtlichkeit an ihrer reaktionären Tradition und wir wissen, 
daß dagegen nur in zähem Kampf anzukämpfen ist. So verfolgt unsere 
Interpellation den Zweck, 1. den Behörden immer wieder zu Gemüte zu 
führen, daß wir allmählich eine genaue Kontrolle über die Ausführung des 
Vereinsgesetzes im Deutschen Reiche verlangen, und 2. den Zweck, der Reichs- 
regierung selbst die Möglichkeit zu geben, Aufklärung über eine Reihe von 
Fällen zu gewähren, die in der Oeffentlichkeit großes Aussehen erregt haben. 
Da ist zunächst der Sprachenparagraph des Gesetzes, der zu Beschwerden 
Anlaß gibt. Im August des Vorjahres hat nämlich die Kieler Polizei an- 
läßlich der Abhaltung einer Friedenskundgebung den zurzeit in Deutsch- 
land weilenden englischen Arbeiterdeputierten, die an dieser Versammlung 
teilnehmen sollten, das Sprechen in englischer Sprache verboten. Zu den 
so Gemaßregelten gehörte auch der Deputierte Macdonald, der wenige 
Wochen vorher in Berlin von den deutschen Behörden feierlich empfangen 
worden war. Durch dieses Verbot ist die internationale Conrtoisie voll- 
ständig verletzt worden. Eine solche Anwendung des Vereinsgesetzes mußte 
uns vor dem Auslande bloßstellen, und es kann nicht wundernehmen, 
wenn man sich in England über ein derartiges Vorgehen unserer Polizei- 
behörden lustig macht. An vielen Einzelbeispielen wurde klar gemacht, 
daß häufig eine schikanöse Auslegung des Gesetzes von der Polizei an- 
gewandt und von den Gerichten gutgeheißen werde. Zusammenfassend sage 
ich: Wir stehen nach wie vor auf dem Standpunkt, daß dieses neue Reichs- 
vereinsgesetz einen großen politischen Fortschritt bedeutet, wir freuen uns, 
daß sogar die gegnerische Presse das allmählich einzusehen beginnt. Um 
so mehr haben wir die Verpflichtung, darauf zu sehen, daß das Gesetz so 
zur Anwendung gelangt, wie es von der Mehrheit des Parlaments gewollt 
ist. Der jetzige Reichskanzler haftet uns mit seiner ganzen Persönlichkeit
	        
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