Die Ministerverantwortlichkeit in Sachsen. 5
heben, so sind die Anklagepunkte bestimmt zu bezeichnen und in jeder Kammer
durch eine besondere Deputation zu prüfen.
Vereinigen sich hierauf beide Kammern in ihren Beschlüssen über die Anklage,
so bringen sie dieselbe mit ihren Belegen an eine besonders dazu niedergesetzte
Behörde, den Staatsgerichtshof.
Bei den Berathungen der Landstände über die Verfassung kam in Frage, ob
nicht jeder Kammer einzeln, ohne Zustimmung der andern Kammer, das Anklage-
recht gegen die Vorstände der Ministerien zuerkannt werden sollte. Man sah
aber davon ab. Die städtischen Abgeordneten wünschten bei Meinungsverschieden-
heit der Kammern über die Anklage Majorität in der von ihnen vorgeschlagenen
Modalität. Die Deputirten der Ritterschaft verlangten dagegen Uebereinstimmung
beider Kammern und war zu einer Vereinigung dieser entgegengesetzten Ansichten
nicht zu gelangen. Vergl. Prot. der ständischen Deputation wegen der Ver-
fassungsurkunde und des Wahlgesetzes I. B. C. Nr. 75 a. (ungedruckt). Nach
älterem badischen Recht mußten beide Kammern die Anklage stellen, seit dem
Gesetz vom 20. Februar 1868 steht aber der II. Kammer allein dieses Recht zu').
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A.
Bedeutung, Zweck, Organisation des Staatsgerichtshofes.
Diese Behörde besteht hiernach zum gerichtlichen Schutze der Verfassung im
Königreiche Sachsen. Sie erkennt:
a) über Handlungen der Vorstände der Ministerien, welche auf den Umsturz
der Verfassung gerichtet sind,
oder
b) die Verletzung einzelner Punkte der Verfassung betreffen*)
Ueberdieß kann auch
c) noch in dem im §. 153. der Verfassungsurkunde bemerkten Falle an die
genannte Behörde Recurs eingewendet werden, wenn nämlich über die Auslegung
einzelner Punkte der Verfassungsurkunde Zweifel entsteht und derselbe nicht durch
Uebereinkunft zwischen der Regierung und den Ständen beseitigt werden kann.
Die für und wider streitenden Gründe sind dann sowohl von Seiten der
Regierung als der Stände dem Staatsgerichtshof zur Entscheidung vorzulegen.
*) Für die unabhängige Ausübung des Anklagerechts durch jede Kammer hat sich u. a.
v. Mohl a. a. O. S. 232—238 ausgesprochen; vergl. auch Bähr, der Rechtsstaat S. 81
u. 185 und Dr. Samuely a. a. O. S. 69. 70.
*) Manche Staatsrechtslehrer gehen davon aus, daß der Staatsgerichtshof nur über die
staatsdienerlichen Pflichtverletzungen der Minister erkennen soll; insoweit eine Handlung der-
selben auch gegen das Strafgesetz verstößt, gehört sie, nach ihrer Ansicht, zur Kompetenz der
ordentlichen Gerichte. Vergl. Dr. Samuely, das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit in
der konstitutionellen Monarchie. Berlin 1869. S. 121 ff.