Full text: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. Erster Theil, Erster Band. (1)

78 Erster Theil. Erster Titel. 
8. 13. Daß ein Kind lebendig zur Welt gekommen sei, ist in dieser Beziehung 
schon 15) für ausgemittelt anzunehmen, wenn unverdächtige, bei der Geburt gegen- 
werde, liege. Das Erforderniß der Vitalität ist dem A. L. R. unbekannt, vielmehr wird jedem lebendig 
geborenen Kinde vollstäudige Rechtsfähigkeit zugeschrieben. — Geburt ist die vollständige Treunung 
eines lebenden Menschen von der Mutter. Dazu gehört: 1) Trennung, gleichviel ob natürliche oder 
künftliche (L. 12 pr. D. de liberis, XXVIII, 2); 2) vollständige Treunung (L. 3 C. de posthum- 
VI, 29); 3) Leben nach der vollständigen Trennung, weshalb ein Kind, welches in der Geburt gelebt 
hat, aber noch vor der vollständigen Absouderung von dem Mutterleibe gestorben, nicht rechtsfähig ge- 
worden ist (L. 3 C. de posthum. I. 29 D. de verb. sign. L., 16); wogegen die durch den Anfang des 
selbstständigen Lebens einmal erworbene Rechtsfähigkeit nicht wieder verloren geht, wenn auch schon im 
nächsten Augeublicke (illico — vel kn manidus obstetricis) der Tod erfolgt. L. 2 u. L. 3 1. f. C. de 
postbumis (VI, 29); 4) menschliche Natur (6. 17). 
Die dritte Bestimmung ist dunkel. Eigemtlich drückt das L. N. den Grundsatz oder die Rcgel über 
den Ansang der Rechtsfähigkeit überhaupt nicht aus, sie ist stillschweigend vorausgesetzt. Das R. NR. ist 
darin bestimmter, wenn nur Regel und Ausnahme unterschieden werden. Die L 9, S§. 1 D. ad L. 
Falc. (XXXV. 2) und die L. 1. ʒ. 1 D. de inspic. ventre (XXV, 4) sagen bestimmt, ein Ungeborener 
sei nur ein Theil des münerlichen Leibes. Dies ist die Negel. Daher kann eine Leibesfrucht nicht 
Rechtssubjekt sein, solglich auch, da sie keine Person ist, die einer Vertretung fähig und bedürftig wäre 
(non est pupillus qui in utero est, L. 161 D. de verb. sign.; ventri tutor — dari non potest, L. 20 
pr. D. de turor), nichts erwerben, noch besitzen, noch schuldig sein. Darum kennen wir auch keine 
Negeln, wonach das Schicksal der Vermögensgegenstände, welche man dem Embryo zuschreiben wollte, 
in dem Falle bestimmt werden könnte, wo er gar nicht zur Welt käme. Gleichwohl wird in anderen 
Stellen der Fötus pro superstite genommen, eum do ipsius jure quseritur; alüs autem non prodest 
nlsi nalus.“ L. 231 D. de verb. signu. (L, 16), und „prolnde ac si in rebus humanis esset, custo- 
diur, qucties de commodis ipsius partus agitur."“ L. 7 D. de statu hom. (I, 5) und L. 26 eodem. 
Dies ist das „naseiturus habelur pro nato“ der Neueren. Hierin wird jene Negel, daß der Ungebo- 
rene rechtsunfähig, nicht aufgehoben, es wird nicht gesagt, daß er als Person vertreten werden und er- 
werden koune; vickmehr wird ihm nur eine gewisse Vorsorge zu seiner Erhaltung und zur Vorbereitung 
eines Rechtsgenusses bei seinem Eintritte in die Welt durch Aufbewahrung gewisser Rechte zugewendet. 
Zu erster Hinsicht äußert sich die Vorsorge durch Strasandrohung gegen Handlungen, welche die Leibes- 
frucht tödten, und durch Ausschiebung von an sich rechtmäßigen Handlungen, wie z. B. Hinrichtung und 
Folterung der Mutter, bis nach der Geburt. L. 18 de statu hom.; L. 3 D. de pocnis (XLVIII, 19). 
anz dieselbe Bedeutung hat der §. 10 d. T. Zu der anderen Rücksicht bestand die Vorsorge darin, 
ut in tempus nascendi omnin ei jura integra reserrarent.“ L. 3 D. si pars (V, 4). rst dann 
sollte er erwerben können. Diese jura reserrala, in welche der Neugeboreue sofort eintreten sollte, be- 
rafen Staudesverhältuisse und Erbfolge. Eine während der Schwangerschaft eröffnete Erbschaft, welche 
dem Kinde, wenn es schon geboren wäre, aufallen würde, blieb ihm bis zur Geburt vorbehalten (L. 26 
de statu hom. I, 5; L. 3 si pars V, 4; L. 7 de reb. dub. XXXIV. 5; L. 36 de solut. XIVI, 3), 
und zur Bewahrung dieser reservirten Rechte wurde ihm ein Kurator bestellt. L. 20 de tutor. (XXVI, 
5); Til. Dig. de ventre in poss. (XXXVII, 9). Es waren also ganz einzelne und beschränkte Rechts- 
beziehungen, in welchen ein Ungeborener, gegen die Regel, als ein schon vorhandenes Subjekt fingirt 
wurde. — Ganz denselben Sinn hat die Bestimmung dieses V. 12, daß solche bürgerliche Rechte, welche 
einem Ungeborenen zugefallen sein würden, wenn seine Empfängniß seine Geburt gewesen wäre, ihm 
bis zur Geburt vorbehalten bleiben. Dieser Vorbehalt beziehe ch nur auf Standesverhälmisse (II. 2, 
Ss. 22—24) und auf Erbsolge (I. 9, 8#§. 371 ff.; 1. 12, §. 527; 1I. 2, §. 44¼4; II, 4, §. 95; I, 11, 
88. 1113 ff.) und kaun weder analog auf andere Verhältuisse ausgedehnt, noch auch in etwas Anderes, 
etwa in eine wahre Erwerbung, umgewandelt werden. Der zu bestellende Kurator, der nicht eigentlich 
eine Person vertrin, sondern nur einem Verwahrer ähnlich ist, ist also durchaus nicht in der rechtlichen 
Lage, Namens einer nicht existirenden Person Verträge oder sonst Rechtegeschäfte zu schließen, er ist 
nur im Stande, im eigenen Namen diejenigen Rechtegeschäfte einzugehen, welche zur Wahrung des 
ihm anvertrauten Rechis nothwendig siud, und welche, wenn der künftige Meusch zur Welt kommt und 
er don dem ihm reservirten Rechte Gebrauch machen will, mit überuommen werden müssen. Aus die- 
sen Gründen hat Dr. Jacobi in sciner Refuration des damaligen kurmärkischen Pupillenkollegiums 
(Jur. Wocheuschrist 1842, S. 591 ff.) vollkommen Recht, und es ergiebt sich aus der Vergleichung der 
§§,. 10, 12 und 17 die Regel, daß die bürgerliche Rechtsfähigkeit eiues ungeboreucu Kindes verneint 
wird, und daß ausnahmsweise nur in einzelnen Beziehungen bestimmte Rechte, welche dem Erzeugten, 
wäre er schon geboren, anfallen würden, bis zur Geburt in statu quo erhalteu werden, damit der 
neue Mensch solche, wenn er will, erwerben möge. 
15) Der Beweis des Lebens eines Kindes ist nicht auf bestimmte Lebenszeichen beschränkt. Manche 
der älteren röm. Juristen idie Sabinianer) behaupten zwar, das Kiud müsse nothwendig geschrieen ha- 
ben; allein Justinian hat diese Meinung beseitigt (L. 3 C. de posthum. VI, 29), und gemeinrecht- 
lich ist hierüber kein Steit; denn das R. R. hat den Rest der einst allgemein verbreiteten deutschen
	        
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