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Schutz der in Fabriken beschäftigten Frauen und Minder-
jährigen. Inmitten der tiefgehenden Bewegung, welche auf dem Gebiet der
wirtschaftlichen Verhältnisse der arbeitenden Klassen stattfand, hatte die Regierung
ihre Aufgabe jederzeit darin erkannt, unter Aufrechterhaltung des Grundsatzes
der freien Entfaltung der Erwerbsthätigkeit, einerseits schützend einzutreten, wo
die freie Verwertung der Arbeitskraft behindert oder gelähmt wird, andererseits
dem Mißbrauch der gewährten Freiheit zu wehren und durch wohlwollende
Unterstützung alle Bestrebungen zu fördern, welche aus dem wirtschaftlichen
Leben des Volkes heraus gegen die Uebelstände einer schrankenlosen gewerblichen
Entwicklung ankämpfen. In dieser Richtung hatte namentlich der Schutz der
Frauen und Minderjährigen, welche in Fabriken beschäftigt sind, bereits in der
preußischen Gewerbegesetzgebung besondere Beachtung gefunden, und die durch
Erfahrung bewährten Grundsätze derselben sind auch in der Gewerbeordnung
für das Deutsche Reich aufgenommen worden. Die Reichsbehörden hatten den
gewerblichen und sogenannten sozialen Fragen in den letzten Jahren fortgesetzt
eingehende Erwägungen gewidmet und die Mittel und Wege in Betracht ge-
zogen, durch welche von seiten des Staates die Beseitigung wirklicher Notstände
in den Arbeiterklassen gefördert werden kann.
Infolge einer Anregung des Reichstags aus dem Jahre 1873 beschäftigte
sich der Bundesratsa usschuß für Handel und Verkehr mit der Frage, inwie-
weit ein Bedürfnis zur Anstellung von Erhebungen über Angemessenheit und
Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der in Fabriken beschäftigten Frauen
und Minderjährigen gegen sonntägliche Arbeit sowie gegen übermäßige Be-
schäftigung un den Werktagen bestehe. 1) Die darauf bezüglichen Verhandlungen
führten zu Anträgen an den Bundesrat, dahingehend: „1. Der Bundesrat wolle
sich damit einverstanden erklären, daß, der Resolution des Reichstags vom
30. April 1873 entsprechend, zur Erörterung der Frage über die Angemessen-
heit und Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der in Fabriken beschäftigten
Frauen und Minderjährigen gegen sonntägliche Arbeit, sowie gegen übermäßige
Beschäftigung an den Werktagen Erhebungen angestellt werden; 2. die Bundes-
regierungen seien zu ersuchen, diese Erhebungen durch die ihnen geeignet erscheinenden
Organe baldigst pflegen zu lassen und die Resultate seiner Zeit dem Reichskanzler-
Amt in übersichtlicher Zusammenstellung mitzuteilen; 3. zu diesem Behuf sei
das Reichskanzler-Amt zu ersuchen, auf der Grundlage der in Nr. 147 der
Drucksachen des Bundesrats von 1873 enthaltenen Gesichtspunkte nach etwaiger
Zuziehung von Sachverständigen, im Benehmen mit dem Ausschuß für Handel und
1) Bereits im Sommer 1873 war dem Bundesrat eine hierauf bezügliche Vorlage
zugegangen; dieselbe bezog sich auf Erhebungen, welche die preußische Regierung auf diesem
Gebiete gemacht hatte, umfaßte die Grundsätze, von denen die Reichsregierung ausgehen
wollte und stellte anheim, gegenüber der bezüglichen Resolution des Reichstags, die ganze
Frage durch ein Enquéêteverfahren zu regeln.
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. III. 7