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da kaufen können, wo sie am billigsten sind; dadurch steigt die Exportfähigkeit
und die Kaufkraft im Innern. Wenn sich nun trotz dieser letzteren, offenbaren
Vorteile die Zollerträge seit 1861/63 um 56 % auf den Kopf erhöht hatten,
so lag hierin ein nicht zu leugnender Erfolg.
Mit diesen Zahlen wußte Delbrück Bismarck zu blenden, solange die
wirtschaftliche Lage nichts zu wünschen übrig ließ; als aber der geschäftliche
Niedergang eingetreten war, da kam es zwischen beiden Staatsmännern zu
Meinungsverschiedenheiten über den volkswirtschaftlichen Wert der erhöhten
Wareneinfuhr. Delbrück und den Freihändlern erschien jede Einfuhr als Gewinn,
weil sie das volkswirtschaftliche Vermögen vergrößere; Bismarck dagegen wollte
nur diejenige Einfuhr als vorteilhaft gelten lassen, welche bestimmten Faktoren
— dem Staate sowohl wie dem einzelnen — Vorteil brächte; in anderm Falle
war die Einfuhr in seinen Augen totes Kapital. Die gewaltige Zunahme der
Einfuhr hatte nach seiner Auffassung den Produzenten vieler Zweige nur Ver-
legenheiten gebracht, zumal sie ihre eigenen Erzeugnisse nicht unter gleich günstigen
Bedingungen ausführen konnten.
Die Frage, ob Delbrück nicht demnächst wenigstens für eine gemäßigtere,
den realen Verhältnissen mehr Rechnung tragende Handelspolitik zu gewinnen
gewesen wäre, wie sie Camphausen, Achenbach und Hofmann in den Jahren 1876
und 1877 bei Beratung des Gesetzentwurfs über die Ausgleichungsabgaben ver-
teidigten, möchte ich nicht verneinen; Delbrück hat gegen den Schluß seiner
Amtsperiode und noch späterhin mit Nachdruck erklärt, er lasse sich in seiner
Wirtschaftspolitik nicht von theoretischen Lehrmeinungen, sondern von praktischen
Bedürfnissen leiten, und diese könnten unter Umständen wohl dazu führen, die
Zollbarrieren wieder etwas zu schließen.
Der Fehler Delbrücks lag überhaupt nicht in seinem System, sondern darin,
daß er aus Vorliebe dafür bei demselben auch noch zu einer Zeit verharrte, da
es sich bereits überlebt hatte. Hätte Delbrück im Jahre 1875 der Notlage der
Eisenindustrie durch Aenderung der Zollgesetzgebung Rechnung getragen, so
würde man dem Staatsmann während seiner Amtsperiode überhaupt keinen
Fehler nachweisen können. Für Delbrück war der Schritt allerdings — man
denke sich nur in seine Situation hinein — schwer, er bedeutete einen Bruch
mit seiner ganzen Vergangenheit und schloß weitere Konzessionen in sich, die
seinem Freunde Camphausen keine Früchte getragen haben. Für Bismarck
war hingegen der Schritt leicht, für ihn handelte es sich lediglich um einen
Systemwechsel, der sich unbeschadet des Ansehens seiner Person vollziehen
konnte.
Schließlich machte Bismarck Freunden gegenüber gar kein Hehl daraus,
daß die Tage Delbrücks gezählt sein müßten. „Delbrück will ich Ihnen preis-
geben“ — bemerkte er zu dem Abgeordneten Stumm — „greifen Sie die Re-
gierung nur tüchtig an.“ Und dem Grafen Fred Frankenberg gegenüber äußerte
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. III. 12