— 208 —
glaubt keiner daran, daß der Entschluß Bismarcks durch politische Motive ver-
anlaßt worden sei, und ich hörte nur darüber Zweifel äußern, ob der wahre
Grund nicht mehr in der Rücksichtnahme auf den überaus aufgeregten Zustand
der Fürstin, als in dem eigenen neuralgischen Schmerz zu suchen sei.
Das Wetter war bisher hier nicht anders, wie bei Euch, und kannst Du
Dir daher denken, daß auch mein Aufenthalt hier ein wenig angenehmer ist,
zumal alle meine näheren Bekannten zur Zeit noch fehlen. Die täglichen
Sitzungen erscheinen mir daher als eine Wohlthat. In der heutigen Ausschuß-
sitzung wird die Diätenfrage und die mecklenburgische Verfassungsangelegenheit
zur Verhandlung kommen. Beides verspricht interessant zu werden."“
*
Berlin, den 24. Oktober 1875.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Hier regnet es seit meiner Ankunft fast ununterbrochen fort und es stürmt
dabei, daß es kaum möglich ist, den Regenschirm aufzuspannen. An Spazieren-
gehen ist daher nicht zu denken. Die Romane, mit denen Deine Schwester
Lyda mich versorgt hat, sind ausgelesen, und so freue ich mich denn stets über
die Ankunft meines dicken Ministerialpakets und über jede Sitzung, die hier
anberaumt wird. Auch der heutige Sonntag wird durch eine solche entweiht,
er bringt mir aber noch eine weitere Abwechslung, indem ich zu den Kronprinz-
lichen Herrschaften nach Potsdam zum Thee befohlen worden bin.
Trotz der vom Himmel herabfallenden massenhaften Feuchtigkeit liegt doch
eine gewisse Schwüle hier in der Luft. Man trägt sich in den Kreisen des
Bundesrats allgemein mit der Besorgnis, daß die Reichstagsdiät diesmal einen
ziemlich stürmischen Verlauf nehmen werde. Erhöhung des Militärbudgets,
Verwilligung neuer Steuern 1) und die Novelle zum Strafgesetzbuch, in der sich
eine Reihe von Paragraphen mit politischem Beigeschmack befinden, sind Bissen,
die zu verschlucken selbst der nationalliberalen Partei sehr schwer angehen wird.
Die letztere ist aber offenbar aus der eigensten Initiative Bismarcks hervor-
gegangen, und man fürchtet daher wohl nicht ganz mit Unrecht, daß er bei
seiner Nervosität eine ernste Opposition gegen dieselbe mit großer Leidenschaft-
lichkeit bekämpfen, dies aber doch vielleicht erfolglos bleiben werde und sich
dann daraus eine beklagenswerte Krisis entwickeln könne. Jedenfalls wird es
nicht an interessanten Verhandlungen fehlen; ich bin aber doch froh, daß ich
nicht genötigt bin, dieselben von Anfang bis zu Ende mit anzuhören, sondern
bald mein Bündel schnüren kann. Der endliche Ausgang der baherischen
Adreßdebatte ist mir eine wahre Freude und gewiß von nicht zu unterschätzender
1) Vorgeschlagen war eine Erhöhung der Brausteuer und die Einführung einer
Stempelabgabe von Schlußnoten, Rechnungen, Lombarddarlehen und Wertpapieren.