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Eine Berliner lithographische Korrespondenz, die „Deutsche Reichs-
Correspondenz“, wollte wissen, daß die angeblich lange Dauer der sogenannten
Kanzlerkrisis sich nur dadurch erkläre, daß Fürst Bismarck als Bedingung
seines Bleibens im Amte einen großen System= und Personenwechsel verlangt
habe, der Kaiser sich aber nicht habe entschließen können, sich von mehreren
langjährigen Dienern zu trennen; zugleich wurde behauptet, daß sich unter diesen
der Minister Camphausen befunden habe. Der thatsächliche Verlauf der Krisis.
hatte mit den angeführten Behauptungen nicht das geringste zu thun gehabt.
Zur Erklärung der angeblich langen Dauer der Krisis brauchte man sich nur
zu erinnern, daß der Kaiser sich bemühte, den Kanzler zunächst zum Verzicht
auf den Abschied, dann zum Verzicht auf einen Urlaub von unbestimmter längerer
Dauer mit völliger Enthaltung von der Teilnahme an allen Regierungsgeschäften
zu veranlassen. Dazu kam, daß der Kanzler selbst Herrn Camphausen zu
seinem Stellvertreter vorgeschlagen hatte. Es kann versichert werden, daß bei
den Verhandlungen Vorschläge wegen eines Personen= und Systemwechsels nicht
gemacht wurden. Jene Behauptungen waren nichts weiter als Uebertragungen
aus den Andeutungen einzelner Zeitungen über die Zukunftspläne des Kanzlers
auf das Gebiet der bereits lebendigen Thatsachen.
In dieser Session ereignete sich einer der berühmten Fälle, 1) in welchem
Preußen im Bundesrat überstimmt wurde; es war die Abstimmung über den
Sitz des Reichsgerichts. Gegen die preußischen Stimmen wurde Leipzig hierzu
ausersehen. Die preußische Regierung nahm diesen Beschluß zum Anlaß, von
dem Rechte Gebrauch zu machen, welches Art. 9 der Reichsverfassung den im
Bundesrat in der Minderheit gebliebenen Regierungen gibt, von dem Rechte,
im Reichstag den Standpunkt ihrer Regierungen zu vertreten. Einen Erfolg
hatte dies bekanntlich damals nicht, es war aber ein seltsames Schauspiel, das
sich dem Reichstag darbot, als der Bevollmächtigte des Königs von Preußen
den Beschluß des Bundesrats bekämpfte, welchen der Kaiser, der zugleich König
von Preußen ist, dem Reichstag vorgelegt hatte.
Ein nationalliberales Blatt schrieb zu dem Bundesratsbeschluß:t „Man
hat gesagt, daß die Abstimmung im Bundesrat die Majorisirung des führenden
welche sich aus der von der herrschenden wirtschaftlichen Doctrin seit lange geforderten,
von Bundesrat und Reichstag mit überwältigenden Majoritäten beschlossenen Freizügigkeit
entwickelt hätten. Er selbst könne die Vorarbeiten nicht machen; diejenigen, welche sie zu
machen hätten, leisteten passiven Widerstand; und damit brach der Kanzler ab. Eine dritte
Möglichkeit, die sich jedem Zuhörer darstellte, schien er mit Resignation als unerreichbar
zu betrachten. Sollte nicht auch dies mit der physischen Ermüdung etwas zu thun haben?
Der Kanzler hat, wie öfter schon, auch hier Shakespeares „Percy“ kopirt, dem der Dichter
das Wort in den Mund legt:
„Viel höher schlägt das Herz beim Löwenjagen, als beim Hasenhetzen.“
1) Der erste Fall war es natürlich nicht; ein gleichfalls bekannter Fall betraf die
Aberkennung des Adels im Strafgesetzbuch; s. Bd. I S. 305.