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deutschen Staates durch Benutzung des formellen Stimmrechts ein verhängnis-
voller Beweis von dem im Reich wachsenden Partikularismus sei. Allein, wenn
man diesem Partikularismus die Kraft zutraut, gegen den energischen Willen
Preußens und der Reichsregierung eine wichtige politische Entscheidung durch-
zusetzen, so darf man wenigstens die Hergänge, die an diesen Gesetzentwurf sich
anschlossen, nicht als Beispiel dafür citiren. Denn Thatsache ist, daß die Reichs-
regierung nichts dafür gethan hat, um rechtzeitig die Bundesregierungen auf
den Wert aufmerksam zu machen, den sie auf die Wahl der Reichshauptstadt
als Sitz des Reichsgerichts legt. Vielmehr hat man die kleinen und kleinsten
Bundesregierungen vollständig sich selbst überlassen. Viele wußten gar nicht,
ob der Reichskanzler eigentlich für Leipzig oder Berlin sei, manche nahmen
sogar das erstere an. Wenn also das Resultat der Abstimmung im Bundesrat
und im Reichstag bedauert wird, so ist in erster Linie nicht nur der Parti-
kularismus, sondern die Regierungslosigkeit im Reiche selbst für den Ausgang
verantwortlich zu machen. Die Vorgänge, die sich an den Gesetzentwurf knüpften,
sind auf jeden Fall bedauerlich, eine Frage von dieser Bedeutung durfte von
der Reichsregierung nicht mit Passivität den Abstimmungen des Bundesrats
oder des Reichstags überlassen werden. Sie mußte feste und entschiedene
Stellung nehmen, sei es für Berlin, sei es für Leipzig. Welche Wahl man
auch traf, der führende deutsche Staat und der Reichskanzler an der Spitze
mußten für das eine oder andere voll und ganz einstehen."
Der „Berliner Börsen-Courier“" brachte folgende Nachricht: „Die Rede, welche
der Abgeordnete Lasker am vorgestrigen Tage gehalten hat, hat, wie man uns aus
authentischer Quelle mitteilt, eine Art Konflikt mit dem Reichskanzler zur Folge
gehabt. Herr Lasker sprach sich, wie bekannt, darüber aus, daß der Reichs-
kanzler nicht zur persönlichen Vertretung des Gesetzes anwesend sei und Fürst
Bismarck, dem sofort die Vorgänge im Reichstage gemeldet wurden, glaubte
aus den Laskerschen Worten den Vorwurf einer Pflichtwidrigkeit herauslesen zu
können. Er schrieb infolge dessen an den Staatssekretär Dr. Friedberg sofort
einige Zeilen, in denen er ihn ersuchte, jenen Laskerschen Vorwurf zurückzuweisen.
Herr Friedberg aber replicirte — so werden diese Details in parlamentarischen
Kreisen erzählt — daß er den Fürsten ersuche, diese Erwiderung persönlich zu
thun. Darauf hin schrieb der Fürst an den Präsidenten Herrn v. Forckenbeck
einige Zeilen, in denen er erklärte, er würde nicht wieder eine Versammlung
betreten, in welcher man ihn der Pflichtwidrigkeit geziehen habe. So stehen
die Dinge, und wir sind begierig, wie dieser neueste Konflikt zum Ausgleich
oder zum Austrag kommen wird. In Reichstagskreisen hat der Fall selbst-
redend das außerordentlichste Aufsehen erregt."“
Zur Abschwächung des Eindrucks, den die Majorisirung Preußens in der
Reichsgerichtssache im Bundesrate machte, wurde offiziös geschrieben: „Die Ent-
scheidung des Bundesrats über den künftigen Sitz des Reichsgerichts wird mit