Sinn. Kastner war im Bundesrat Referent für den nach dem Nobilingschen
Attentat daselbst eingebrachten zweiten Entwurf eines Gesetzes gegen die gemein-
gefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie. Der von der preußischen Re-
gierung noch vor seiner Beratung im Bundesrat veröffentlichte Gesetzentwurf!)
ließ gegen das Verbot sozialdemokratischer Vereine eine Beschwerde an das
„Reichsamt für Vereinswesen und Presse“ offen. Ueber die Organisation dieser
Beschwerde-Instanz war im Entwurfe bestimmt: Das Reichsamt für Vereins-
wesen und Presse hat seinen Sitz in Berlin und besteht aus neun Mitgliedern,
welche aus der Zahl der im Reichs= oder im Staatsdienst angestellten Per-
sonen zu berufen sind. Mindestens fünf Mitglieder müssen etatsmäßig angestellte
Richter sein.
Im Jahre 1894 veröffentlichten die „Berliner Neuesten Nachrichten“ einen
auf diesen Gesetzentwurf bezüglichen Brief Bismarcks an den Chef der Reichs-
kanzlei, d. d. Kissingen, 15. August 1878, welcher lautet: „Eure Hochwohl-
geboren bitte ich, Herrn Minister Grafen Eulenburg und Herrn Geheimrat
Hahn mein Bedauern darüber auszusprechen, daß der Entwurf des Sozialisten-
gesetzes in der „Provinzial-Korrespondenz“ amtlich publizirt worden ist, bevor er
im Bundesrat vorgelegt war. Diese Veröffentlichung präjudizirt jeder Amen-
dirung durch uns und ist für Bayern und andere Dissentirende verletzend. Nach
meinen Verhandlungen von hier aus mit Bayern muß ich annehmen, daß
letzteres an seinem Widerspruche gegen das Reichsamt festhält. Württemberg
und, wie ich höre, auch Sachsen widersprechen dem Reichsamt nicht im Prinzip,
wohl aber angebrachtermaßen, indem sie die Zuziehung von Richtern perhor-
resziren.
Diesem Widerspruche kann ich mich persönlich nur anschließen. Es handelt
sich nicht um richterliche, sondern um politische Funktionen, und auch das
preußische Ministerium darf in seinen Vorentscheidungen nicht einem richterlichen
Kollegium unterstellt und auf diese Weise für alle Zukunft in seiner politischen
Bewegung gegen den Sozialismus lahm gelegt werden. Die Funktionen des
Reichsamts können nach meiner Auffassung nur durch den Bundesrat entweder
direkt oder durch Delegationen an einen jährlich zu wählenden Ausschuß geübt
werden. Der Bundesrat repräsentirt die Regierungsgewalt der Gesamtsoube-
ränetät von Deutschland, dabei etwa dem Staatsrate unter anderen Verhält-
nissen entsprechend.
Bisher muß ich indessen annehmen, daß Bayern auf diesen für Württem-
berg, Sachsen und für mich persönlich annehmbaren Ausweg nicht eingehen
wird. Auch die Klausel in Nr. 3, Artikel 23, daß nur arbeitslose Individuen
ausgewiesen werden dürfen, ist für den Zweck ungenügend.
Ferner bedarf das Gesetz meines Erachtens eines Zusatzes in Betreff der
1) Vgl. die „Prov. Korresp.“ Nr. 33 v. 14. 8. 78.