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rates und des Reichstages, eine Position, die nach der Ansicht des Kanzlers
weder der Würde des Deutschen Kaisers noch der Machtstellung des Königs von
Preußen entspricht. Daß Fürst Bismarck aber nicht daran denkt, zur Be—
dingung seines Wiedereintritts in seine Funktionen die Realisirung solcher Idee
oder der von der freien Verfügung des Premiers über die Ministerstellen zu
machen, geht schon daraus hervor, daß er in den Fällen, wo er seine Lieblings-
theorien exponirte, ausdrücklich erklärte, man möge darin mehr eine Kritik des
Bestehenden erblicken als ein Bild des heute oder morgen schon zu Erstrebenden.
Auch was er von der rücksteigenden Reichsflut gesagt, war nicht so böse oder
ernstlich gemeint. Er fügte gleich hinzu: „Sie wird wieder in die Höhe gehen,
es macht sich nicht alles gleich in drei oder zehn Jahren; unsere Feinde müssen
auch was zu thun haben, sie könnten sich sonst langweilen.“ Die Klagen
Bismarcks über die Haltung der nationalliberalen Partei verweisen wir ebenfalls
in das Bereich von Kundgebungen einer augenblicklich schlechten Laune. Was
bleibt also übrig, um den Kanzler in Varzin zurückzuhalten? Etwa der Mangel
an Genossen für die Sauhatz. Das wäre allerdings Grund genug. Wie
würde sich aber die Sache stellen, wenn der Kanzler die Initiative zu den
großen Reformen nicht mehr von andern, wie er es im letzten Frühjahr wollte,
erwartete, sondern sie selbst ergriffe? Hierzu wäre freilich eine tüchtige Ge-
sundheit das Haupterfordernis, damit die Nerven durch die unvermeidliche
Ministerkrise nicht zu sehr angegriffen würden. Wir vermuten fast einen solchen
Plan beim Kanzler, da nach der Kreuzzeitung“ und nach dem Kommentar der
hochoffiziösen „Polit. Korr.“ zu der Nachricht, derselben „es gewiß scheint, daß
Fürst Bismarck seinen vollen Wiedereintritt nur noch von der Beseitigung an-
geblich katholischer Einflüsse am Hofe abhängig machen willt.
Streichen wir das Wort „ngeblicht. Denn jene Einflüsse existiren
wirklich. Für den Fürsten Bismarck wären demnach nur noch die katholischen
Einflüsse am Hofe im Wege. Wenn es sich nun bestätigt, was wir hören,
daß Graf Nesselrode, der fanatischste Widersacher Bismarcks und seiner Politik,
endlich von dem Posten abtritt, auf den ihn hohes Vertrauen mitten in seinen
Machinationen seit Jahren erhalten hat, so würde der Rückkehr des Kanzlers
nichts mehr im Wege stehen. Es war Zeit, daß solche Sühne erfolgte. Die
Nation hat schon zu lange murrend einen Mann wie den Grafen Nesselrode
an seiner Stelle gesehen und mit Unmut die entgegengesetzten Strömungen in
unseren höchsten Kreisen bemerkt, und das mitten in einem Kampfe, der das
ganze Interesse der Nation in Anspruch nimmt. Es soll ihr endlich die ver-
langte Genugthuung werden, die seitdem, daß es bekannt geworden, daß die
Gehlsensche Presse bis zu jener hohen Stelle hin ihre materielle und geistige
Alimentation gefunden, nur um so dringender gefordert wurde."“
Noch sei gestattet, darauf hinzuweisen, daß es von Bismarck, der heute
nach zwanzig Jahren ganz ebenso wie nach dreißig noch so jung ist, daß