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er die Zügel der Regierung mit fester Hand halten könnte und halten würde,
wenn sie ihm nicht aus der Hand genommen worden wären, damals (Februar
1878) zum erstenmal hieß: er fange an, ein Greis zu werden. In einem
„Der alternde Bismarck“ überschriebenen Artikel, der sich heute noch mit Interesse
liest, heißt es: „Entweder ist die geistige Kraft Bismarcks im Abnehmen, oder
derselbe verfolgt eine rein machhiavellistische Politik. In dieser Alternative fassen sich
schließlich alle Raisonnements der letzten Tage zusammen, welche im In= und Aus-
lande, welche vor allem in Wien, Paris, London laut geworden sind und um
das Thema von der Macht und demgemäß von der Pflicht Deutschlands, an
der Spitze Europas die russische Politik in ihre Schranken zurückzurufen, sich
drehten. Versäumt Deutschland diese Pflicht, so bleibt eben nur jene Alternative
übrig: altersschwach oder Macchiavell!? Ein Drittes gibt es nicht. Das
„Journal des Döbats“ neigt sich zur ersteren Annahme, die österreichische Presse
zur andern. Man kbönnte vielleicht sagen: es gibt doch noch ein Drittes,
nämlich altersschwach und Machhiavelli. Indessen, auch bei dieser Annahme
möchte man doch dem einen oder dem andern Momente das Uebergewicht zu-
schreiben und würde dann doch wieder vor die obige Alternative gestellt. Wir
sind der Meinung, daß gerade die letzte Zeit, was innere Politik betrifft, den
Fürsten Bismarck uns unternehmender und thatkräftiger vorgeführt hat als
vielleicht je zuvor. Revolutionen werden nicht von Greisen gemacht, und wer
wie Fürst Bismarck noch solche Gedanken mit sich herumtragen kann wie die
totale Umwälzung unseres Steuersystems, den jähen Bruch mit unserer gesamten
Wirtschaftspolitik, Umgestaltung der Ressortverhältnisse in der obersten Verwaltung
und dergleichen, bei dem darf man nicht von greisenhafter Stumpfheit des
Geistes sprechen, auch wenn man ihm auf keinem einzigen der neu eingeschlagenen
Wege einen Schritt zu folgen vermag. Sollte in der äußeren Politik der
innerlich immer noch so rührige und rüstige Bismarck ein anderer sein? Nein,
wir denken, er arbeitet auch da noch mit ganzer Kraft, und seine heutige Politik
in der brennenden Tagesfrage ist das Ergebnis eines energischen Willens, über
dessen Richtung kein Zweifel mehr obwalten kann, und an den alles, was in Europa
gegen slavischen Uebermut und brutale Uebermacht des Ostens ihn anruft, ver-
gebens appellirt. Nicht Ermattung der geistigen Kräfte, nicht Abnahme der
vielgerühmten Genialität, welche Auffassung auf eine Art von Entschuldigung,
auf ein Plaidiren für mildernde Umstände hinausläuft, ist bei dieser Konnivenz
des deutschen Reichskanzlers gegen die russischen Pläne, so maßlos dieselben sein
mögen, zu konstatiren, sondern lediglich die schärfere Zuspitzung des alten
politischen Systems Bismarcks. Wohl finden wir ihn noch rührig wie immer
auf dem qui vive. Doch dürfen wir dem nackten Eigennutz augenblicklicher
Sondervorteile nicht mit einer ideelleren Auffassung politischer Verhältnisse kommen.
Den Diplomaten geht es wie den Gelehrten und Künstlern, was Lang-
lebigkeit und Produktivität betrifft. Plato und Kant haben gerade in ihrem