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Rat im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten Bosse in die durch den
Abgang Tiedemanns freigewordene Stellung eines vortragenden Rats im
Staatsministerium berief. Bosse arbeitete für Stolberg eine erhebliche Zahl
zum Teil sehr wichtiger Ministerialvoten aus. Es wird mir versichert, daß die
Grundgedanken der späteren Reichsgesetzgebung zum Schutze der wirtschaftlich
Schwachen (Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung) in Stolbergschen
Staatsministerialvoten niedergelegt sind.
II. Im Reich fungirten bei Stolbergs Eintritt in die Stelle des Vizekanzlers
als Staatssekretäre die Herren Hofmann (Reichskanzler-Amt), v. Bülow (Aus-
wärtiges Amt), v. Stosch (Marineverwaltung), Dr. Friedberg (Reichs-Justizamt)
und der Unterstaatssekretär Herzog (im Reichskanzler-Amt für Elsaß-Lothringen).
Stolberg bekam also nur dasjenige zu sehen, was ihm Bismarck oder die
genannten Ressortchefs zur Erledigung vorlegten, und das war herzlich wenig.
Kräfte zur Ausarbeitung von Reichssachen standen ihm in keiner Weise zu
Gebote, und so kam es, daß seine Thätigkeit einen immer formelleren Charakter
annahm.
Wie unausgesprochen Stolbergs Stellung im Reich war, zeigte sich auch
äußerlich daran, daß er im Handbuch für das Deutsche Reich an keiner Stelle
als Vizekanzler figurirte. Er war nur an einer Stelle genannt, und zwar als
preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrat. Wollte Stolberg im Bundesrat
einen Einfluß gewinnen, so mußte er vor allem den Kanzler ersuchen, statt
Hofmann ihn mit der regelmäßigen Leitung des Bundesrats zu beauftragen.
Dies ist aber unterblieben. Stolberg hat auch nicht in einer Sitzung des
Bundesrats den Vorsitz geführt. Auch ergriff der Stellvertreter des Reichskanzlers
im Reichstag vom Regierungstisch aus nur ein einzigesmal das Wort. 1)
Als Stellvertreter des Kanzlers hätte Graf Stolberg-Wernigerode auch
im Auswärtigen Amt thätig werden können. Bismarck scheint Stolberg aber
für den laufenden Dienst des Auswärtigen Amts nicht herangezogen zu haben;
so nahm derselbe an dem bald nach seinem Eintritt in das Ministerium
eröffneten Berliner Kongreß keinen Anteil. Dagegen sandte ihn Bismarck am
29. September 1879 nach Baden-Baden, um die Genehmigung des Keisers
zu dem von Bismarck am 24. September in Wien unterzeichneten deutsch-
österreichischen Entwurf eines Defensivvertrags zu erwirken.:) Nach der „Post“
ging am 9. Oktober 1879, dem Tage der Abreise Bismarcks nach Varzin, die
obere Leitung des Auswärtigen Amts auf den Grafen Stolberg über.
1) Am 16. September 1878 bei Beratung des Sozialistengesetzes. Stolberg eröffnete
den Reichstag am 9. September 1878, 12. Februar 1880 und 15. Februar 1881 und
schloß denselben am 10. Mai 1880.
2) Rückkehr Stolbergs am 4. Oktober 1879. 7. Oktober 1879 Unterzeichnung des
Bündnisvertrags in Wien.