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Fassen wir alles zusammen, so kann man sagen, Bismarck sowohl wie
Stolberg hatten sich bei der Ernennung des letzteren zum Vizepräsidenten des
Staatsministeriums und Vizekanzler vergriffen. Bismarck erwartete von dem
Eintritt Stolbergs in die Regierung eine Entlastung in Preußen und im Reich,
eine nachhaltige Unterstützung in den Parlamenten, die Beseitigung der ihm
von den Ministern und Staatssekretären bereiteten Friktionen, was alles nicht
eintrat. Stolberg erwartete seinerseits Einfluß in Reich und Preußen, der ihm,
mangels eines eigenen Ressorts, vielleicht auch durch die Eifersucht der Minister
und Staatssekretäre, die zwischen sich und den Kanzler kein neues Glied ein—
geschoben wissen wollten, völlig versagt blieb.
So kann man sich denn höchstens darüber wundern, daß Stolberg so lange
aushielt, wie er es that. Bereits im Herbst 1880 gab derselbe den dringenden
Wunsch zu erkennen, aus dem Reichs- und Staatsdienste zurückzutreten, indem
er betonte, daß seine Privatverhältnisse, namentlich neuere große Erwerbungen
in Schlesien (die früher im Gräflich Renardschen Besitz befindlichen Waldungen)
ihm dies zur Pflicht machten. Der Kaiser erklärte, nur ungern auf die Er—
füllung des Wunsches einzugehen. Der bei dieser Gelegenheit zwischen Bismarck
und seinem Stellvertreter 1) entstandene Briefwechsel lautet nach der Publikation
von Horst Kohl im Bismarck-Jahrbuch:
Wernigerode, 5. September 1880.
„Ew. Durchlaucht wollen mir gütigst nachstehende Darlegung gestatten.
Ew. Durchlaucht werden sich erinnern, daß der Entschluß, wieder in den un-
mittelbaren öffentlichen Dienst einzutreten, mir seinerzeit sehr schwer geworden ist.
Vor allem war es die Befürchtung, meinen eigenen Angelegenheiten mich zu
sehr zu entfremden, welche meine Bedenken erweckte. Ich habe diese Bedenken
demnächst zurücktreten lassen und bin nunmehr seit 4½ Jahren wieder im Reichs-
beziehungsweise Staatsdienst. In den beiden letzten Jahren habe ich mich
zwar mit Allerhöchster Genehmigung längere Zeit in Wernigerode aufhalten
können, aber diese Zeit hat gerade hingereicht, um mir klar werden zu lassen,
wie sehr die unvermeidliche Gebundenheit einer amtlichen Stellung mich von
meinen eigenen Angelegenheiten abzieht. Daher ist das Bedürfnis nach Wieder-
erlangung der Freiheit ein immer lebhafteres geworden und jetzt auf den Punkt
gestiegen, daß ich den allerdringendsten Wunsch habe, meine Staatsämter wieder
aufzugeben. Das gütige Wohlwollen, mit welchem Ew. Durchlaucht mich
fortgesetzt beehrt haben, läßt es mir als Pflicht erscheinen, Hochdenselben
von meinen Gedanken vertrauliche Kenntnis zu geben, bevor ich irgend einen
entscheidenden Schritt darin thue, und dies ist der Zweck des gegenwärtigen
Schreibens. Meine amtlichen Leistungen schlage ich selbst äußerst gering an.
1) Man nannte scherzweise Stolberg „Otto das Kind“ zum Unterschied von „Otto"
Bismarck.