— 419 —
Berlepsch wurde demnächst einer der Hauptmitarbeiter an dem Arbeiter-
schutzgesetz, einem Gesetz, das in dem Rahmen von Bismarcks Sozial—
politik gleichfalls niemals hätte Platz finden können. Dem im Spätherbst 1890
zusammentretenden Reichstag wurde eine Novelle zur Gewerbeordnung vor-
gelegt, die die Kinderarbeit noch weiter als bisher beschränkte, die Beschäftigungs-
zeit für Jugendliche regelte, den elfstündigen Arbeitstag für Frauen festsetzte,
Fabrikordnungen obligatorisch und Arbeiterausschüsse fakultativ einführte, dem
Bundesrat die Befugnis gab, in Betrieben, wo durch übermäßige Arbeitsdauer
die Gesundheit der Arbeiter leide, ein Maximum der Beschäftigungsdauer fest-
zusetzen. Die Berechtigung der Arbeiter, Koalitionen zur Erlangung besserer
Arbeitsbedingungen einzugehen, wurde bestätigt, die Bestrafung des Kontrakt-
bruches abgelehnt. Es wurden ferner Bestimmungen für die Sonntagsruhe
in Gewerbe und Handel getroffen und anderes mehr. Obwohl im Reichstag
manche Bedenken laut wurden, da den einen der Arbeiterschutz zu weit, den
andern zu eng gefaßt war, war doch im allgemeinen ein so starker Zug zur
Reform in den großen Parteien vorhanden, daß die Vorschläge der Regierung
mit großer Mehrheit Annahme fanden.
Noch weiter trennte sich Berlepsch von den Traditionen der Bismarckschen
Politik durch sein kräftiges Eintreten für die Caprivischen Handelsverträge.
Ueber seine weitere Wirksamkeit schrieb die „National-Zeitung“ nach seinem
Rücktritt (Nr. 415 vom 28. Juni 1896): „Die Einsetzung der gegenwärtig
bekanntlich nicht sehr populären Kommission für Arbeiterstatistik war eine Kon-
sequenz des Arbeiterschutzgesetzes; sie sollte das thatsächliche Material sammeln
für die Beurteilung weiterer Maßnahmen, die im Anschluß an jenes Gesetz,
namentlich zur Ausführung darin dem Bundesrat erteilter Vollmachten, in
Frage kommen mochten. Die vielbesprochene Bäckereiverordnung, welche von
dieser Kommission ausgearbeitet war, entsprach so sehr den sozialpolitischen
präsident von Düsseldorf in dem dortigen wichtigen Industriebezirk vielfach verdienstvolle
sozialpolitische Anregungen gegeben und durchgeführt hatte, jene himmelstürmenden Ein-
bildungen teilte, mag dahingestellt bleiben; thatsächlich ward er der ministerielle Vertreter
derjenigen Sozialpolitik, welche durch die Erlasse vom 4. Februar 1890 zunächst die gegen
die gesamte Bismarcksche Politik gerichtete Strömung bei den damals bevorstehenden
Wahlen außerordentlich förderte und so den Sturz des ersten Kanzlers herbeiführen half
Weil eine derartige Wirkung mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, hatten sich
alle Gegner des Fürsten Bismarck, selbst die radikalsten Manchesterleute, rasch entschlossen
auf die Seite der Februar-Erlasse geworfen, während diese politische Bedeutung der Situation,
ferner die gefährliche Vieldeutigkeit der Erlasse und die bedenkliche Art ihrer Entstehung
auch bei solchen Beurteilern Besorgnisse erregen mußten, welche, gleich uns, seit Jahren
eine positive Sozialpolitik unterstützt und insbesondere eine maßvolle Weiterbildung der
Fabrikgesetzgebung befürwortet hatten. Das erste große Unternehmen jener sensationellen
Sozialpolitik, die internationale Arbeiterschutzkonferenz, welche unter dem Vorsitz des Herrn
v. Berlepsch tagte, führte denn auch zu einem vollständigen Fehlschlag."