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Verleumdung des Herrn v. Berlepsch verfolgt wurde. Im Bernsteinprozeß
mußte er sich sagen lassen, daß er, der Sozialpolitiker, Eingaben, welche
ihn um Abhilfe schreiender Mißstände anflehten, nicht einmal beantwortet
hatte. Reichstag und Landtag überfielen ihn wegen seiner Verordnung für
die Bäckereien. Er verteidigte sich, nur noch gehalten vom Zentrum, am
15. Juni im Abgeordnetenhaus mit einer Entschiedenheit, die man an ihm
nicht gewohnt war und aus der an mehreren Stellen Bitterkeit hervorsah; er
verhöhnte geradezu die politischen Parteien mit ihrer „Bäckerkundschaftt. Aber
bald fand er seine weltmännische Ruhe wieder; er verabschiedete sich verbindlich
lächelnd am Regierungstisch und ging hinaus. Bei Fortsetzung der Debatte
am folgenden Tage erschien er nicht; Unterstaatssekretär Lohmann erklärte, er
sei nach Potsdam befohlen. Man hat ihn nie wiedergesehen.“!1)
Bei dem Festmahl des Vereins für Sozialpolitik in Cöln am 24. Sep-
tember 1897 führte Freiherr v. Berlepsch aus, er habe stets ein außerordentlich
hohes Interesse an den Arbeiten und Zielen des Vereins genommen, namentlich
deshalb, weil es keinen Verein gebe, der die schwebenden Fragen in ihren
Einzelheiten so gewissenhaft durchleuchtet habe wie der Verein für Sozialpolitik.
Wenn der Verein und die national-ökonomische Wissenschaft in der letzten Zeit
1) Freiherr v. Berlepsch hat sich in einer Unterredung, die er dem Vertreter der
„Staatsbürger-Zeitung“ gewährte, über die Gründe geäußert, die zu seinem Rücktritt vom
Amte führten. Danach hat weder die Frage des Acht-Uhr-Ladenschlusses noch die der
Organisation des Handwerks den früheren Handelsminister veranlaßt, um seine Entlassung
einzukommen. Er erklärte, daß er in der Frage des Acht-Uhr-Ladenschlusses nicht auf dem
Boden der Vorschläge stehe, die von der Reichskommission für Arbeiterstatistik ausgegangen
sind, und daß sich mit diesen Vorschlägen weder das preußische Staatsministerium noch
die Abteilungsminister befaßt haben. Die Vorlage über die Organisation des Handwerks
habe noch während seiner Amtsthätigkeit das Staatsministerium passirt, ohne dort auf
wesentliche Bedenken zu stoßen; es sei daher auch kein Grund zu der Annahme vorhanden, daß
diese Frage jetzt ins Stocken geraten werde. Als einzigen Grund für seinen Rücktritt
ließ Herr v. Berlepsch nur Meinungsverschiedenheiten mit den entscheidenden Stellen in
der Gesamtauffassung der sozialpolitischen Fragen, insbesondere der Arbeiterfrage gelten.
Er hält die bisherigen Maßnahmen nur für den Anfang einer praktischen Fürsorge für
die Arbeiter, er verlangt darüber hinaus Berufsorganisationen mit möglichst weitgehenden
Rechten und erwartet hiervon, daß die Arbeiterbewegung wie in England ihres revolutionären
Charakters entkleidet, von der gegenwärtigen verderblichen Führung der sozialdemokratischen
Fraktion losgelöst und so zu einer fruchtbaren organischen Mitarbeit in Staat und Gesell-
schaft gewonnen wird. Auf diesem Wege hat er bis vor Jahresfrist an allen maßgebenden
Stellen Zustimmung und Unterstützung gefunden, der Widerstand hat sich erst beim Beginn
der letzten parlamentarischen Campagne bemerkbar gemacht, und er hat schließlich eine
Ausdehnung angenommen, die seinen Rücktritt unvermeidlich machte. Er glaube, daß seine
sozialpolitischen Anschauungen mit denen an Allerhöchster Stelle auch heute noch im Grunde
übereinstimmen, aber auch er vermag sich der Befürchtung nicht zu verschließen, daß gegen-
wärtig der Geist des Herrn v. Stumm über den Wassern schwebt, und daß dieser Geist
zum Schaden der Gesamtheit den Sieg davontragen könne.