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vielfach angegriffen worden seien, so liege es daran, daß man häufig nicht so
sehr die objektive Wahrheit klargelegt haben wolle, als den Beweis für eine
vorgefaßte Meinung suche. Die heutigen sozialen Kämpfe seien keine neue
Erscheinung, auch frühere Jahrhunderte hätten ähnliche Kämpfe gesehen. Der
Ausgang des vorigen Jahrhunderts habe den Emanzipationskampf des dritten
Standes gebracht, am Ausgang dieses Jahrhunderts handle es sich um den
Emanzipationskampf des vierten Standes. Man müsse anerkennen, daß dieser
Kampf der eines neu heranwachsenden Standes sei, der dieselben geistigen und
materiellen Vorteile beanspruche, wie die Stände sie besäßen, die diesen Kampf
bereits durchgekämpft hätten, und dieses Bestreben sei ein gerechtes, im Interesse
eines gesunden Fortschritts sogar notwendiges, und ihm wende sich daher unsere
Teilnahme mit vollem Recht zu. Er fühle sich frei von allen sozialdemokratischen
Gedanken, soweit sie sich gegen die Grundlagen unserer heutigen Kultur richteten;
ihm stehe die Geschichte viel zu fest, als daß er glauben könnte, daß eine Gefahr
für unsere geistigen und sittlichen Errungenschaften, die die Jahrhunderte über-
liefert hätten, bestehe. Aber wenn man mit dem nebelhaften Programm der
Sozialdemokratie zugleich die Berechtigung des Kampfes der Arbeiter um eine
bessere Existenz, um Teilnahme an diesen geistigen und sittlichen Errungenschaften
verwerfen wolle, so wäre das ein großer, verhängnisvoller Irrtum; vielmehr
müsse man sich auf den Standpunkt stellen, daß die gebildeten und besitzenden
Klassen das Emporkommen eines vierten Standes zu dulden und zu fördern
haben. Er schließe in der Hoffnung, daß unsere arbeitende Bevölkerung sich
immer mehr der Erkenntnis zuwenden werde, daß der Verein und seine Freunde
der Arbeiter wahres Wohl im Auge haben, und in diesem Sinne trinke er auf
das Wohl des vierten Standes. 1)
1) Hierzu bemerkten die „Oamb. Nachr.“: „Der Trinkspruch, den der frühere preußische
Handelsminister Freiherr v. Berlepsch beim Banket des Vereins für Sozialpolitik in Cöln
auf den vierten Stand ausgebracht hat, wird von der sozialdemokratischen und demokratischen
Presse in allen Tonarten als ppolitische That“ gepriesen. Hätte es für uns noch eines
Grundes bedurft, um auf die Entlassung des Herrn v. Berlepsch aus dem Ministerium
mit Genugthuung zurückzublicken, so würde er durch diese Rede gegeben sein. Wenn Herr
v. Berlepsch zwischen der sozialdemokratischen Bewegung und dem berechtigten Kampfe der
Arbeiter um eine bessere Existenz einen prinzipiellen Unterschied macht, so liefert er damit
nur einen neuen Beweis, daß er über die wirkliche Sachlage in einer Weise mangelhaft
unterrichtet ist, die bei einem früheren Minister Befremden erregen muß. Und wenn er
die jetzige Arbeiterbewegung mit dem Emanzipationskampfe des dritten Standes am Aus-
gang des vorigen Jahrhunderts in Parallele stellt, so übersieht er dabei, daß es sich im
letzteren Falle um einen politischen Emanzipationskampf handelte, während sich im ersteren
der Streit doch nur darum dreht, ob der Schlüssel zum Geldschrank seinem bisherigen
Eigentümer erhalten oder ihm entrissen werden soll. Im übrigen betrachten wir es als
ein nicht unbedenkliches Zeichen der Zeit, daß ein Mann, der noch bis vor kurzem preußischer
Minister war, es für seine Aufgabe halten konnte, in öffentlicher Rede revolutionäre
Emanzipationskämpfe — mag er als Privatmann darüber denken, wie er will — als etwas