— 471 —
hausen noch im preußischen Ministerium saß, konnte von einem rückhaltslosen
Verlassen dieser Politik natürlich nicht die Rede sein; denn wie die Verhältnisse
einmal liegen, wird der Gang der Reichspolitik im wesentlichen im preußischen
Staatsministerium beschlossen.
Sobald aber Bismarck dort für seine auf den Schutz der nationalen
Arbeit gerichteten Bestrebungen Gehör fand, waren die Tage des Freihandels
gezählt; denn daß der Bundesrat, soweit die außerpreußischen Stimmen in
Betracht kamen, gegen Bismarcks Willen noch weiter Manchesterpolitik treiben
konnte oder auch nur wollte, daran war nicht zu denken.
Die Anträge, die Bismarck in handelspolitischer Beziehung an den
Bundesrat brachte, hatten im wesentlichen einen vorbereitenden Charakter.
Wir befinden uns in der Periode der großen Enquêten. Der Zeitpunkt zu
schutzzöllnerischen Anträgen an den Bundesrat war noch nicht gekommen; aber
außerhalb des Bundesrats begann Bismarck bereits ganz unverblümt, dem
Delbrück-Camphausenschen System den Krieg zu erklären. Der erste Schlachtruf
erscholl in einem vom Reichskanzler inspirirten Artikel in der „Prov.-Corresp.“"
vom 10. April 1878, betitelt: „Die Reichstagsmehrheit und die wirtschaftliche
Politik des Fürsten Bismarck“. In den weitesten Kreisen der deutschen
Industrie atmete man bei Durchlesung dieser offiziösen Kundgebung wie von
einem Alp befreit auf. Das aus den leitenden Kreisen so lange vergeblich
erhoffte erlösende Wort, daß die „Behandlung der Zollfrage nicht nach den
Auffassungen und Geboten bloßer Lehrmeinungen, sondern vor allem nach den
Anforderungen der thatsächlichen Lage der Dinge und nach den wirklichen Be-
dürfnissen des Volkes zu gestalten,“ war von einer mächtigen Wirkung nicht
bloß im Inland, sondern auch im Ausland, bei allen jenen Nachbarn, mit
denen Deutschland im Begriffe stand, seine zollpolitischen Beziehungen neu zu
ordnen. „Es wird ihnen,“ so bemerkte ein nationalliberales Provinzblatt im
Gegensatz zu der kühlen, fast ablehnenden Haltung der „National-Zeitung“,
„daraus unzweifelhaft klar werden, daß die Zeit vorüber ist, wo Deutschland
einem schönen internationalen Prinzip zu liebe die nationale Arbeit zum Teil
von der ausländischen Ueberproduktion erdrücken ließ, wo Deutschland Kon-
zessionen ohne Gegenleistung machte."“
Die Bedeutung der Reichseinrichtungen zur bundesfreundlichen Lösung von
Schwierigkeiten zwischen den einzelnen Regierungen bewährte sich in Betreff der
Berlin-Dresdener Eisenbahn. Der Bundesrat überwies die Angelegenheit zur
schiedsrichterlichen Entscheidung des Ober-Appellationsgerichts der freien
Hansestädte zu Lübeck, welches im Sinne der preußischen Regierung Ent-
scheidung traf.
Daß der diplomatische Ausschuß des Bundesrats während der russisch-
türkischen Verwicklungen auch nur einmal zusammenberufen worden sei, davon
hat nichts verlautet.