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man die Situation in Berlin genauer kennen, als es bei mir der Fall ist.
Indes möchte ich doch glauben, daß die Chancen für eine unveränderte An—
nahme des verhängnisvollen § 1 sehr gering waren. Die Ablehnung desselben
hätte aber die Auflösung des Reichstags zur notwendigen Folge haben müssen,
und daß man diese Maßregel unter allen Umständen zu vermeiden bemüht ge-
wesen ist, kann ich nur billigen. Bei diesem Ausgang wäre es nun allerdings
wohl das Bessere gewesen, wenn das Gesetz gleich anfänglich mit der jetzt an-
genommenen Zeitbeschränkung vorgelegt worden wäre. Ich möchte darin, daß dies
nicht geschehen, aber doch kaum einen politischen Fehler erkennen, da ich über-
zeugt bin, daß es ganz unmöglich gewesen sein würde, von dem Kaiser ein
solches Zugeständnis ohne eine äußere Nötigung zu erlangen.“
*
Gotha, den 4. Juni 1874.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, das muß ich mir heute zum Troste
sagen, da ich mit meinen Plänen für die nächste Zukunft vollständig gescheitert
bin. Mein Landtag hält erst morgen Sitzung, für Sonntag bin ich von dem
gnädigsten Herrn nach Coburg befohlen, und im Laufe nächster Woche hofft
der Landtag mit seinen Geschäften fertig zu werden. Mitte des Monats aber
beginnen die Verhandlungen im Bundesrat über die großen Justizgesetze, zu
denen Herr Delbrück noch besonders eingeladen hat; ich würde es daher um
so weniger für korrekt halten, mich der Beteiligung an denselben lediglich um
meines Vergnügens willen zu entziehen, als ich auch bei der Konferenz in
Kösen nicht umhin konnte, dem mehrseitig ausgesprochenen Wunsche, bei dieser
Gelegenheit möglichst vollzählig in Berlin zu erscheinen, meinerseits zuzustimmen.
Hält demnach der Landtag Wort und erledigt seine Arbeiten bis Ende nächster
Woche — was mir allerdings noch einigermaßen zweifelhaft erscheint — so
bleibt mir keine Wahl, ich muß dann Sonntag über acht Tage nach Berlin
reisen. Indes glaube ich mit Sicherheit annehmen zu können, daß die dortigen
Verhandlungen nur von kurzer Dauer sein werden; ich rechne höchstens auf
6—8 Tage.“
Berlin, den 30. Oktober 1874.
An Frau Wanda v. Koethe.
„Ueber die gestrige Eröffnungsfeierlichkeit des Reichstags berichten die
Zeitungen bereits ausführlich; ich will Dir aber eine kleine mich selbst betreffende
Episode derselben mitteilen. Vor mehreren Tagen fuhr der Kaiser unter den Linden
bei mir vorüber; ich machte natürlich Front und zog meinen Hut; er dankte mit
einer kurzen Bewegung der Hand nach der Mütze. Gestern trat er vor der Eröffnung,