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Grundzüge lag in dem neuen, durch seine Großartigkeit wie durch seine Ein-
fachheit gleichzeitig überraschenden Vorschlage einer Organisation der gesamten
Fabrikindustrie in Berufsgenossenschaften mit obligatorischem Beitritt. Der
Reichszuschuß war zwar der Form nach fallen gelassen, aber thatsächlich insofern
beibehalten, als eine Reichsgarantie für die Verpflichtungen etwa leistungs-
unfähig werdender Genossenschaften übernommen werden sollte. Die Grundzüge
beschränkten die Unfallversicherung auf diejenigen Arbeiter, die bisher unter
das Haftpflichtgesetz filen. Die Ausdehnung auf weitere Kreise der arbeitenden
Bevölkerung blieb vorbehalten.
Mitte Februar 1884 legte der Reichskanzler den Gesetzentwurf nebst Motiven
dem Bundesrat vor, 1) und bereits am 1. März erfolgte nach eingehenden Aus-
schußberatungen die Annahme im Plenum. Die von Württemberg in den
Ausschüssen durchgesetzte Einrichtung von Landesversicherungsämtern neben dem
Reichsversicherungsamt wurde vom Plenum abgelehnt. 2) In der Sitzung vom
1. Juli stimmte der Bundesrat dem Unfallversicherungsgesetz in der vom
Reichstage beschlossenen Fassung zu. Damit war der zweite große Grundstein
unserer allen Kulturstaaten als Muster vorschwebenden Gesetzgebung zum Schutze
der wirtschaftlich Schwachen endlich unter Dach gebracht. 3)
Novelle zum Hilfskassengesetz. Mitte Februar 1884 legte der
Reichskanzler dem Bundesrat den Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung des
nicht mißzuverstehender Tendenz allerlei unrichtige Personalnachrichten bringt, sucht in
seinem heutigen Leitartikel eine bestimmte Persönlichkeit als den „Verfasser“ der neuesten
Grundzüge hinzustellen, welcher den vom Geheimen Rat Lohmann beschrittenen Weg
durchaus verlassen und einen ganz neuen Pfad zur Erreichung des ihm gesteckten Zieles
eingeschlagen habe. Weniger dem Inhalt als der Absicht solcher unzutreffenden Aus-
streuungen gegenüber dürfte es angemessen sein, zu konstatiren, daß die Grundgedanken
dieses Entwurfs, wie der ganzen Sozialreform vom Reichskanzler ausgehen, während nur
die Detailausführungen von den im Reichsamt des Innern hierzu berufenen Referenten
ausgearbeitet werden mußten.
1) In Kohls Bismarck-Regesten übersehen. Vgl. darüber „Nordd. Allg. Ztg.“
Nr. 77 v. 15. 2. 84; die „Post“ Nr. 52 v. 22. 2. 84; „Nat. Ztg.“ Nr. 104 v. 15. 2. 84.
Nach Schultheß Geschichtskalender 1884 S. 22 erfolgte die Vorlage am 14. Februar 1884.
2) Der Antrag Württembergs ging dahin, daß die einzelnen Staaten je für ihr
Gebiet ein besonderes Landesversicherungsamt errichten können, welches die dem Reichs-
versicherungsamt übertragenen Zuständigkeiten in den Angelegenheiten derjenigen Berufs-
genossenschaften, welche sich nicht über das Gebiet des betreffenden Bundesstaates hinaus
erstrecken, wahrzunehmen hat. Zur Beschlußnahme dieses Landesversicherungsamtes in den
näher bestimmten Angelegenheiten ist die Mitwirkung je eines Vertreters der Berufs-
genossenschaften und der Arbeiterausschüsse erforderlich Soweit die Zugehörigkeit eines
Betriebes zu einer der Aufsicht des Reichsversicherungsamtes unterstellten Berufsgenossen-
schaften in Frage kommt, entscheidet das Reichsversicherungsamt.
8) Ausschußantrag, betreffend die Aufstellung von Musterstatuten für Krankenkassen
zu dem Gesetze über die Krankenversicherung der Arbeiter, s. „Nat. Ztg.“ Nr. 160
v. 13. 3. 8S4.
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. V. 10