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sich unser Volksschulwesen in Bezug auf sein Verhältnis zur Religion gegen-
wärtig befindet."“
Mit der Konfessionalisirung oder Desimultanisirung der Schule ging
Puttkamer nur mit großer Vorsicht vor.
Am 23. Oktober 1879 hielt der Kultusminister v. Puttkamer in Essen
bei einem Festmahl eine Rede, von der die „Nat.-Ztg.“ bemerkte, „es sei eine
solche nicht gehört worden, seitdem es eine preußische Geschichte giebt“". Nach
dem Berichte einer dortigen Zeitung sprach der Minister zu den Versammelten
folgendermaßen:
„Sie haben vielleicht gestern die „Kölnische Zeitung“ gelesen und erfahren
wie unser Kaiser es über sich gebracht hat, seine Herzenswünsche dem Wohle
seines Volkes zum Opfer zu bringen. Er hat es gethan im Bewußtsein seiner
Pflicht, er hat ein Bündnis geschlossen, welches hoffentlich lange Jahre über-
dauern und Europa den Frieden erhalten wird. Lassen Sie uns deshalb ein-
stimmen in den Ruf: „Seine Majestät der Kaiser lebe hoch!“
Um das Auffallende dieser Rede zu ermessen, muß man bedenken, daß
bis zur Toaststunde über den Inhalt und das Ergebnis von zwei Bismarcks-
Unterredungen in Wien von der Regierung öffentlich nicht gesprochen worden
war, und daß auch die ihr nahestehende Presse weiter nichts geoffenbart hatte,
als daß Deutschland und Oesterreich zusammen der Erhaltung des Friedens
zu dienen und ihre gegenseitigen wirtschaftlichen Bande enger zu knüpfen
bestrebt sein wollten. Und nun erfuhr die Welt mit einem Schlage aus einer
Tafelrede des Kultusministers, daß der Kaiser Wilhelm der Notwendigkeit ge-
horcht, in Wien ein Bündnis gegen Rußland zu schließen, denn nur das
konnte aus dem Toaste herausgelesen werden. Die Regierungspresse meinte
den Fall mit der Versicherung erledigen zu können, der Kultusminister sei über
einen Vorgang der auswärtigen Politik so unwissend wie ein neugeboren
Kindlein, sintemalen nach den durch die Reichsverfassung geordneten Kompetenz-
verhältnissen die auswärtigen Angelegenheiten vor das preußische Kultusministerium
nicht gehören.
Auffallend scharf ging Bismarck gegen die von dem Kultusminister
v. Puttkamer einseitig angeordneten orthographischen Neuerungen vor. Am
28. Februar 1880 richtete er in seiner Eigenschaft als Reichskanzler einen
Erlaß an die Staatssekretäre, betreffend den Gebrauch der bisher üblichen
Rechtschreibung im Reichsdienst, „,bis im Wege der Reichsgesetzgebung
oder einstimmigen amtlichen Vereinbarung eine Abänderung herbeigeführt
sein wird“. 1)
1) Noch im Dezember 1895 befürwortete Bismarck in den „Hamburger Nachrichten“
eine Aufhebung der Puttkamerschen Schul-Orthographie. Der Artikel schloß: Ein Not-
schrei nach Beseitigung der orthographischen Verwirrung, die jetzt herrscht, wäre heute am
Platze. Im deutschen Volke besteht kein Bedürfnis nach Reglementirung der Recht-