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grundlegenden Ideen zu hören. Jene Absicht fand ihre Verwirklichung, indem
sowohl der preußische Volkswirtschaftsrat wie zahlreiche Körperschaften zur
Vertretung wirtschaftlicher Interessen, Berufsgenossenschaften, Handelskammern,
Arbeiterverbände rc. die Grundzüge berieten und ihre Wünsche in Bezug auf
dieselben verlautbarten, während außerdem die Tagespresse vom Standpunkte
der politischen und wirtschaftlichen Parteien sowie eine umfangreiche Broschüren-
literatur sich mit der Sache befaßte.
Nachdem die so bekundeten Wünsche beziehungsweise Bedenken entsprechend
gewürdigt worden, fand die Umarbeitung der Grundzüge in einen Gesetzentwurf
statt, und im April 1888 1) legte der Reichskanzler dem Bundesrat den
Gesetzentwurf über die Alters= und Invalidenversicherung der Arbeiter zur
Beschlußfassung vor. Die Beratung in den Ausschüssen war eine ungemein
eingehende. Um die Beschlußfassung über die vorgeschlagenen prinzipiellen Ab-
änderungen zu erleichtern, wurde eine Subkommission eingesetzt, bestehend aus
dem Direktor Bosse, Geheimrat Lohmann, Geheimrat v. Woedtke, sämtlich
vom Reichsamt des Innern, Bundesratsbevollmächtigten Freiherr v. Marschall
(Baden), bayerischen Regierungsrat Landmann, sächsischen Geheimen Regierungsrat
Böttcher und württembergischen Ober-Regierungsrat Schicker. Am Schlusse
dieser Bundesratssession waren die Arbeiten so weit vorgeschritten, daß an
eine Veröffentlichung der von den Bundesratsausschüssen beschlossenen Fassung
des Gesetzentwurfs gegangen werden konnte. 2) Derselbe wich mehrfach von
den im Herbst 1887 veröffentlichten Grundzügen ab. Die wichtigste Ab-
weichung war die Ersetzung der berufsgenossenschaftlichen Organisation der
Versicherung durch eine kommunale beziehungsweise staatliche Ordnung der
Materie. Der Vorzug dieser Organisation vor der Zersplitterung in zahlreiche
genossenschaftliche Versicherungsanstalten erhellt besonders, wenn man bedenkt,
daß der Gesetzentwurf nur die höheren Kommunalverbände und eventuell die
Bundesstaaten als Träger der Versicherung in Aussicht nahm und überdies
die Vereinigung mehrerer Verbände oder Staaten zu einer gemeinsamen Ver-
sicherungsanstalt zuließ. Er ermöglichte daher die Beschränkung der Versicherungs-
anstalten auf eine geringe Zahl und bildete so den Weg, den Aufwand an Geld,
Arbeit und Zeit für die Durchführung der Alters= und Invalidenversicherung
auf ein vergleichsweise niedriges Maß herabzusetzen. Auf die Stellung des
1) Nach Kohls Bismarck-Regesten datirt das Uebersendungsschreiben vom
19. April 1888.
2) Abgedruckt in der „Nordd. Allg. Ztg.“ Nr. 318, 321 und 322 v. 8S., 10. und
11. Juli 1888. Die Grundzüge des legislatorischen Aufbaus finden sich bereits in der
„Nordd. Allg. Ztg.“ Nr. 317 v. 7. 7. 88 und in der „Nat.-Ztg.“ Nr. 378 v. 7. 7. 88.
Vgl. auch die Artikelserie betitelt „Zur Alters= und Invalidenversicherung in der „Nordd.
Allg. Ztg.“ Nr. 308, 321, 323, 326, 328, 330, 336, 340 u. 346 v. 3., 10., 11., 13., 14.,
15., 19., 21. und 25. Juli 1888.
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. V. 19