Full text: Fürst Bismarck und der Bundesrat. Fünfter Band. Der Bundesrat des Deutschen Reichs (1881-1900). (5)

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wir für ein Ergebnis der zentralisirenden Bestrebungen, welche seit Herstellung 
des Reiches auf Bildung von selbständigen Reichsministerien gerichtet sind. Die 
Anhänger einer schärferen Zentralisation der Reichseinrichtungen sind von der 
Besorgnis beherrscht und angetrieben, daß ihre Zukunftspläne durch Beteiligung 
der einzelnen Landtage an der Reichspolitik beeinträchtigt werden könnten. Die 
Erfahrung, daß die Einrichtung eines selbständigen Reichsministeriums mit der 
verfassungsmäßig berechtigten Mitwirkung der einzelnen Regierungen an der 
Reichsregierung unverträglich sein würde und den Bundesgenossen gegenüber in 
schwere Krisen und Konflikte führen könnte, hat die Rückstände der unitarischen 
Tendenzen bisher nicht beseitigt, welche einer lebhafteren und äußerlich erkenn— 
baren Beteiligung der Einzelstaaten an der Reichspolitik seit zwanzig Jahren 
bewußt oder unbewußt entgegengewirkt haben. Wir halten die Belebung der 
Beteiligung an der allgemeinen Reichspolitik in den öffentlichen Verhandlungen 
der Einzelstaaten und ihrer Parlamente nicht für ein zersetzendes Element, 
sondern für eine Förderung der nationalen Interessennahme an den gemeinsamen 
Angelegenheiten in allen Kreisen der Bevölkerung. Die Unabhängigkeit des 
Reichstags steht dabei nicht in Frage, und die Norm, daß Reichsgesetze den 
Landesgesetzen vorgehen, bleibt davon unberührt. Wir wünschen, daß die Ab— 
stimmungen der Regierungen im Bundesrat durch Erörterung und Verständigung 
jeder Regierung mit ihrem Landtage mehr als bisher auf den Einklang mit 
den Bedürfnissen und Gesinnungen der Einzelstaaten hingewiesen werden, und 
gerade verfassungsfreundliche Blätter sollten jeden Versuch, die Deckung der 
öffentlichen Verantwortlichkeit da herzustellen, wo sie bisher fehlte, willkommen 
heißen. 1) 
Es ist unsere Ansicht, daß sich die Einzellandtage mehr als bisher um die 
Reichspolitik bekümmern sollen und nicht alles als noli me tangere betrachten 
dürfen, was über das rein finanzielle Verhältnis der Einzelstaaten zum Reiche 
hinausgeht. Das deutsche Nationalgefühl erfährt zweifellos eine erhebliche 
praktische Verstärkung, wenn es in jedem Einzellandtag zum Ausdruck gelangt, 
wenn jeder Einzellandtag den Beweis liefert, daß er sich nicht bloß auf dem 
Gebiete des Budgels mit der Reichspolitik beschäftigt. Aber auch selbst die 
finanzielle Frage rechtfertigt schon in jedem Landtage seine Beteiligung an der 
Feststellung des staatlichen Votums im Bundesrat; denn die Frage der Matrikular- 
umlagen und der Herauszahlungen seitens des Reiches wirkt sehr erheblich auf 
die Finanzen des eigenen Landes zurück. Ganz abgesehen davon jedoch, sollte 
in jedem einzelnen Landtage der nationale Gedanke so weit lebendig sein, daß 
1) „Hamb. Nachr.“ vom 19. Februar 1893 bei Johs. Penzler, Bd. IV, S. 367. 
Am 8. Juni 1893 bemerkte Fürst Bismarck in Friedrichsruh in einer Ansprache an 
400 Bewohner des Fürstentums Lippe: „Ich dachte mir, daß die Landtage der einzelnen 
Staaten sich an der Reichspolitik lebhafter als bisher geschehen, beteiligen würden, daß die 
Reichspolitik auch der Kritik der partikularistischen Landtage unterzogen werden würde.“
	        
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