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wir für ein Ergebnis der zentralisirenden Bestrebungen, welche seit Herstellung
des Reiches auf Bildung von selbständigen Reichsministerien gerichtet sind. Die
Anhänger einer schärferen Zentralisation der Reichseinrichtungen sind von der
Besorgnis beherrscht und angetrieben, daß ihre Zukunftspläne durch Beteiligung
der einzelnen Landtage an der Reichspolitik beeinträchtigt werden könnten. Die
Erfahrung, daß die Einrichtung eines selbständigen Reichsministeriums mit der
verfassungsmäßig berechtigten Mitwirkung der einzelnen Regierungen an der
Reichsregierung unverträglich sein würde und den Bundesgenossen gegenüber in
schwere Krisen und Konflikte führen könnte, hat die Rückstände der unitarischen
Tendenzen bisher nicht beseitigt, welche einer lebhafteren und äußerlich erkenn—
baren Beteiligung der Einzelstaaten an der Reichspolitik seit zwanzig Jahren
bewußt oder unbewußt entgegengewirkt haben. Wir halten die Belebung der
Beteiligung an der allgemeinen Reichspolitik in den öffentlichen Verhandlungen
der Einzelstaaten und ihrer Parlamente nicht für ein zersetzendes Element,
sondern für eine Förderung der nationalen Interessennahme an den gemeinsamen
Angelegenheiten in allen Kreisen der Bevölkerung. Die Unabhängigkeit des
Reichstags steht dabei nicht in Frage, und die Norm, daß Reichsgesetze den
Landesgesetzen vorgehen, bleibt davon unberührt. Wir wünschen, daß die Ab—
stimmungen der Regierungen im Bundesrat durch Erörterung und Verständigung
jeder Regierung mit ihrem Landtage mehr als bisher auf den Einklang mit
den Bedürfnissen und Gesinnungen der Einzelstaaten hingewiesen werden, und
gerade verfassungsfreundliche Blätter sollten jeden Versuch, die Deckung der
öffentlichen Verantwortlichkeit da herzustellen, wo sie bisher fehlte, willkommen
heißen. 1)
Es ist unsere Ansicht, daß sich die Einzellandtage mehr als bisher um die
Reichspolitik bekümmern sollen und nicht alles als noli me tangere betrachten
dürfen, was über das rein finanzielle Verhältnis der Einzelstaaten zum Reiche
hinausgeht. Das deutsche Nationalgefühl erfährt zweifellos eine erhebliche
praktische Verstärkung, wenn es in jedem Einzellandtag zum Ausdruck gelangt,
wenn jeder Einzellandtag den Beweis liefert, daß er sich nicht bloß auf dem
Gebiete des Budgels mit der Reichspolitik beschäftigt. Aber auch selbst die
finanzielle Frage rechtfertigt schon in jedem Landtage seine Beteiligung an der
Feststellung des staatlichen Votums im Bundesrat; denn die Frage der Matrikular-
umlagen und der Herauszahlungen seitens des Reiches wirkt sehr erheblich auf
die Finanzen des eigenen Landes zurück. Ganz abgesehen davon jedoch, sollte
in jedem einzelnen Landtage der nationale Gedanke so weit lebendig sein, daß
1) „Hamb. Nachr.“ vom 19. Februar 1893 bei Johs. Penzler, Bd. IV, S. 367.
Am 8. Juni 1893 bemerkte Fürst Bismarck in Friedrichsruh in einer Ansprache an
400 Bewohner des Fürstentums Lippe: „Ich dachte mir, daß die Landtage der einzelnen
Staaten sich an der Reichspolitik lebhafter als bisher geschehen, beteiligen würden, daß die
Reichspolitik auch der Kritik der partikularistischen Landtage unterzogen werden würde.“