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kanzler, sondern in den verbündeten Regierungen. Eine Verantwortlichkeit für
die Beschlüsse des Bundesrats ist beim Reichskanzler schon deshalb nicht zu
suchen, weil er als solcher nicht einmal ein Votum im Bundesrat hat, wenn
er nicht zugleich preußischer Bevollmächtigter ist, sondern sie liegt ausschließlich
bei den Regierungen der Einzelstaaten, nach deren verantwortlichen Beschlüssen
ihre Vertreter im Bundesrat abzustimmen haben. 1)
*
Dem Reichskanzler steht nach Art. 15 der Verfassung nur der Vorsitz im
Bundesrat und die Leitung der Geschäfte zu, aber keineswegs neben der preußischen
Vertretung ein von dieser unabhängiges Recht, zu votiren oder Vorlagen füt
den Reichstag in Antrag zu bringen. Ebensowenig kann der Kanzler eine
Beschlußfassung des Bundesrats, welche seiner Ueberzeugung nicht entsprechen
würde, amtlich verhindern. Dem Reichskanzler liegt also eine isolirte Verant-
wortlichkeit überhaupt nicht ob, sondern nur eine Mitverantwortlichkeit, insoweit
er die preußischen Stimmen und deren Instruirung als preußischer Minister der
auswärtigen Angelegenheiten zur Verfügung hat. Die gelegentlich offiziös ver-
tretene Fiktion der Zulässigkeit von Präsidialanträgen behufs Herbeiführung
legislativer Akte findet in der Verfassung keine Unterlage; es gibt neben den
siebzehn preußischen Stimmen im Bundesrat keine Präsidialstimme, der das
Recht zu legislativen Anträgen beigelegt wäre. Der Reichskanzler kann also
auch nicht die Verantwortlichkeit für bundesrätliche Vorlagen im Reichstag tragen,
und am allerwenigsten dann, wenn sie auf ihn allein beschränkt werden soll.
In den vorbereitenden Stadien bis zur Fertigstellung der Gesetze ist das Präsidium
nicht anders als durch die Leitung der Geschäfte im Bundesrat beteiligt, also
ebensowenig verantwortlich für die Beschlüsse desselbon, wie der Präsident des
Reichstags für die Beschlüsse des letzteren. Wir sehen also keinen Grund ein,
weshalb der Reichskanzler wegen Ablehnung einer bundesrätlichen Vorlage sich
der konstitutionellen Gepflogenheit des Rücktritts zu unterwerfen hätte. Wenn
eine solche bei uns überhaupt in Uebung wäre, so würde die Anstandspflicht
des Rücktritts für die beteiligten Minister der Einzelstaaten, in erster Linie für
die preußischen, in Frage kommen, niemals aber für den Reichskanzler, weil er
eben nur für kaiserliche, nicht für bundesrätliche Anordnungen eine Verant-
wortung trägt.2)
*
Man hat sich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als verant-
wortlich für das gesamte Verhalten der Reichsregierung anzusehen. Diese
Verantwortlichkeit läßt sich nur dann behaupten, wenn man seine Berechtigung
zugiebt, das kaiserliche Uebersendungsschreiben, vermittelst dessen Vorlagen der
1) „Hamb. Nachr.“ vom 19. Januar 1893 bei Johs. Penzler a. a. O., Bd. IV, S. 345f.
2) „Hamb. Nachr.“ vom 26. Juni 1893, bei Johs. Penzler a. a. O., Bd. IV, S. 353.