Full text: Fürst Bismarck und der Bundesrat. Fünfter Band. Der Bundesrat des Deutschen Reichs (1881-1900). (5)

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kanzler, sondern in den verbündeten Regierungen. Eine Verantwortlichkeit für 
die Beschlüsse des Bundesrats ist beim Reichskanzler schon deshalb nicht zu 
suchen, weil er als solcher nicht einmal ein Votum im Bundesrat hat, wenn 
er nicht zugleich preußischer Bevollmächtigter ist, sondern sie liegt ausschließlich 
bei den Regierungen der Einzelstaaten, nach deren verantwortlichen Beschlüssen 
ihre Vertreter im Bundesrat abzustimmen haben. 1) 
* 
Dem Reichskanzler steht nach Art. 15 der Verfassung nur der Vorsitz im 
Bundesrat und die Leitung der Geschäfte zu, aber keineswegs neben der preußischen 
Vertretung ein von dieser unabhängiges Recht, zu votiren oder Vorlagen füt 
den Reichstag in Antrag zu bringen. Ebensowenig kann der Kanzler eine 
Beschlußfassung des Bundesrats, welche seiner Ueberzeugung nicht entsprechen 
würde, amtlich verhindern. Dem Reichskanzler liegt also eine isolirte Verant- 
wortlichkeit überhaupt nicht ob, sondern nur eine Mitverantwortlichkeit, insoweit 
er die preußischen Stimmen und deren Instruirung als preußischer Minister der 
auswärtigen Angelegenheiten zur Verfügung hat. Die gelegentlich offiziös ver- 
tretene Fiktion der Zulässigkeit von Präsidialanträgen behufs Herbeiführung 
legislativer Akte findet in der Verfassung keine Unterlage; es gibt neben den 
siebzehn preußischen Stimmen im Bundesrat keine Präsidialstimme, der das 
Recht zu legislativen Anträgen beigelegt wäre. Der Reichskanzler kann also 
auch nicht die Verantwortlichkeit für bundesrätliche Vorlagen im Reichstag tragen, 
und am allerwenigsten dann, wenn sie auf ihn allein beschränkt werden soll. 
In den vorbereitenden Stadien bis zur Fertigstellung der Gesetze ist das Präsidium 
nicht anders als durch die Leitung der Geschäfte im Bundesrat beteiligt, also 
ebensowenig verantwortlich für die Beschlüsse desselbon, wie der Präsident des 
Reichstags für die Beschlüsse des letzteren. Wir sehen also keinen Grund ein, 
weshalb der Reichskanzler wegen Ablehnung einer bundesrätlichen Vorlage sich 
der konstitutionellen Gepflogenheit des Rücktritts zu unterwerfen hätte. Wenn 
eine solche bei uns überhaupt in Uebung wäre, so würde die Anstandspflicht 
des Rücktritts für die beteiligten Minister der Einzelstaaten, in erster Linie für 
die preußischen, in Frage kommen, niemals aber für den Reichskanzler, weil er 
eben nur für kaiserliche, nicht für bundesrätliche Anordnungen eine Verant- 
wortung trägt.2) 
* 
Man hat sich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als verant- 
wortlich für das gesamte Verhalten der Reichsregierung anzusehen. Diese 
Verantwortlichkeit läßt sich nur dann behaupten, wenn man seine Berechtigung 
zugiebt, das kaiserliche Uebersendungsschreiben, vermittelst dessen Vorlagen der 
1) „Hamb. Nachr.“ vom 19. Januar 1893 bei Johs. Penzler a. a. O., Bd. IV, S. 345f. 
2) „Hamb. Nachr.“ vom 26. Juni 1893, bei Johs. Penzler a. a. O., Bd. IV, S. 353.
	        
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