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Willen ist, auf dessen anderweitige Zusammensetzung im Wege von Neuwahlen
hinarbeiten, sondern auf Verständigung mit ihm Bedacht nehmen sollte. 1)
5. Die LFeitung der Geschäfte und die Führung der preußischen Stimme
im WBundesrak.
Der König von Preußen ist in keiner Weise verfassungsmäßig verpflichtet,
dem Reichskanzler, den er in seiner Eigenschaft als Kaiser zum Vorsitzenden
des Bundesrats und zu seinem alleinigen verantwortlichen Minister in Reichs-
sachen ernennt, auch gleichzeitig als König von Preußen die Führung der
preußischen Stimmen im Bundesrat zu übertragen. Ebensowenig liegt für
den König von Preußen eine verfassungsmäßige Nötigung vor, die übrigen
preußischen Minister, oder selbst die Staatssekretäre der verschiedenen Ver-
waltungsressorts des Reiches zu preußischen Bundesratsbevollmächtigten zu
ernennen. Der König kann seine Vollmacht für den Bundesrat vielmehr einer
jeden Person übertragen, die er für die Führung der preußischen Stimmen
geeignet hält. Es ist also durchaus nicht selbstverständlich, daß der Kanzler
für Preußen abstimmt, wenn er im Bundesrat anwesend ist.
Ebensowenig ist durch ein besonderes Gesetz ein Stellvertreter des Reichs-
kanzlers in der Person des Staatssekretärs des Innern ernannt, sondern auf
Grund des Stellvertretungsgesetzes, nicht durch dasselbe ernennt der Kaiser
zum allgemeinen Stellvertreter für den gesamten Umfang der Geschäfte und
Obliegenheiten des Reichskanzlers nach seiner Wahl, wen er will, und ist dabei
keineswegs an den Staatssekretär des Innern oder sonst jemand gebunden.
Es hat also niemand, auch der Vizepräsident des preußischen Staatsmini-
steriums nicht, einen Anspruch darauf, im Behinderungsfalle den Reichskanzler
als preußischen Stimmführer im Bundesrat zu vertreten. Der Reichskanzler
ist in dieser seiner Eigenschaft nicht preußischer Stimmführer; es kann also
auch niemanden eine „Befugnis“ entgehen, wenn der preußische Minister-
präsident im Bundesrat voll seine Stellung einnimmt. Eine „Befugnis“
existirt in dieser Richtung überhaupt nicht, und die Leitung der Sitzungen des
Bundesrats in Abwesenheit des Reichskanzlers fällt stets demjenigen Mitgliede
des Bundesrats zu, welches der Reichskanzler sich substituirt nach Maßgabe
des Artikels 15 Absatz 2 der Reichsverfassung, welcher bestimmt, daß sich der
Reichskanzler durch jedes andere Mitglied des Bundesrats vermöge schriftlicher
Substitution vertreten lassen kann.
1) „Hamb. Nachr.“ v. 19. Jan. 1893; bei Joh. Penzler a. a. O., Bd. IV, S. 345.
Vergl. den Bismarck zugeschriebenen Artikel, (ck. Penzler a. a. O., Bd IV, S. 322) über
die verfassungsmäßige Stellung des Reichskanzlers in Bezug auf das Bewilligungsrecht
des Reichskanzlers.
Poschinger, Fürst Bismarck und der Bundesrat. V. 24