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über die am Morgen eingegangenen Sachen referirte. Es schwebten damals
Verhandlungen mit Oesterreich-Ungarn wegen Erneuerung des Handelsvertrages.
Die österreichischen Unterhändler weigerten sich, die von uns geforderten Kon—
zessionen zu machen, verlangten dagegen ihrerseits Zugeständnisse, die weit über
die Festsetzungen des bisherigen Handelsvertrages hinausgingen. Sieben oder
acht Differenzpunkte lagen vor, über die keine Einigung erzielt werden konnte.
Die Unterhandlungen drohten zu scheitern. Der deutsche Botschafter in Wien
hatte über die Sachlage berichtet und das preußische Staatsministerium über
seine Stellungnahme in einer langen Sitzung eingehend beraten, ohne sich
schlüssig machen zu können. Jetzt wurde die Entscheidung des Fürsten ange—
rufen. Nachdem ich die Differenzpunkte einzeln aufgezählt, sagte der Fürst,
indem er in größter Gemütsruhe ein Ei aufklopfte, ohne sich auch nur einen
Moment zu besinnen: „Antworten Sie: ad 1. Diese Konzession will ich zur
Not machen; ad 2. fällt mir gar nicht ein; ad 3. das muß späteren Ver—
einbarungen vorbehalten bleiben“ u. s. w. Die Entscheidung über sämtliche
Punkte kam wie aus der Pistole.
Nachher nahm mich Friedberg in eine Fensternische und sagte: „Was ist
das für ein Mann! Da haben wir in Berlin sechs Stunden debattirt und
sind zu keinem Entschluß gekommen. Und hier wird die Sache beim Frühstück
in sechs Minuten erledigt!“
Ein zweites Beispiel: Nach dem Präliminarfrieden von San Stefano, der
den letzten russisch-türkischen Krieg beendete, drohten bekanntlich europäische Ver-
wicklungen. Der damalige russische Botschafter in London, Graf Peter Schu-
waloff, einer der bedeutendsten Staatsmänner, die Rußland je gehabt hat, sah
in der Zusammenberufung eines Kongresses der Großmächte und zwar unter
dem Vorsitz des Fürsten Bismarck den einzigen Ausweg aus der Sackgasse, in
die Rußland durch den Uebereifer einiger seiner Diplomaten geraten war. Er
reiste nach Petersburg, und es gelang ihm hier, den russischen Kaiser für seine
Idee zu gewinnen. Mit der Zustimmung des Kaisers zum Kongresse in der
Tasche, begab er sich auf den Rückweg und telegraphirte von irgend einer
Zwischenstation an den Fürsten Bismarck, er werde abends in Friedrichsruh
eintreffen. Wir warteten auf ihn mit dem Mittagessen. Bei Tische war von
Politik nicht die Rede, Graf Schuwaloff erzählte kleine pikante Geschichten aus
Petersburger Hofkreisen, Fürst Bismarck frischte Erinnerungen an seine letzten
Besuche in Rußland auf. Nach Tische begaben sich die beiden in das Arbeits-
zimmer des Fürsten. Graf Herbert Bismarck und ich warteten derweil in dem
Zimmer nebenan, wo Herbert zu arbeiten pflegte. Wie lange die Unterredung
zwischen dem Fürsten und Schuwaloff gedauert hat, vermag ich genau nicht
anzugeben; länger als zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde gewiß nicht.
Dann erschien der Fürst in der Thür, einen Bogen Papier in der Hand, auf
dem das ganze Programm des einzuberufenden Kongresses niedergeschrieben war.